Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
hatte - fränkische Krieger, wie die fremden Trachten, Waffen und Worte verrieten -, war sie auf der Flucht. Nur manchmal blieb ihr gar nichts anderes übrig, als die Nähe von Menschen zu suchen, nicht die von Kriegern zwar, aber die von Bauern - wenn nämlich Hunger und Kälte sich als die noch größeren Bedrohungen erwiesen.
    Runas Körper spannte sich an, als sie die Beine streckte. Wie so oft hatte sie zusammengekrümmt auf der Astgabel eines Baumes geschlafen. Dass sie hier oben vor Blicken geschützt war, machte das Risiko wett, im Schlaf hinunterzufallen.
    Sie umfasste einen Ast und sprang wendig auf den Boden. Das Feuer, das sie am Abend zuvor auf der kleinen Lichtung mithilfe von trockenem Geäst und Steinen entfacht hatte, war längst erloschen. Runa zitterte. Die wenigen Sonnenstrahlen, die das Astwerk durchdrangen, spendeten kaum Wärme, doch sie fror nicht auf diese schmerzhafte Weise wie im Winter.
    Der Winter war das Schlimmste. Über ein Jahr war vergangen, seit ihr Vater sie aus der Heimat verschleppt hatte, und in den Wintermonaten hatte sie oft gedacht, dass sie den Kampf um den nächsten Tag nicht überleben würde.
    Runa stellte sich auf die Zehenspitzen und griff nach ihrem Bündel, das sie zwischen zwei Äste geklemmt hatte. Ihr sämtlicher Besitz befand sich darin - ein paar Essensreste und selbst gemachtes oder von fränkischen Bauernhöfen gestohlenes Werkzeug. Viele dieser Höfe standen leer, manchmal war sie auf Bewohner gestoßen, nicht immer hatte sie rechtzeitig vor ihnen fliehen können.
    Von den Bäumen tropfte es feucht. Der Umhang, in dem sie geschlafen hatte, war feucht vom Tau und von Schlammspritzern übersät. Diesen Umhang hatte sie im Winter aus dem Fell einer Wölfin gemacht, die sie erlegt hatte, ehe das Tier ihr seine gefletschten Zähne ins Fleisch hauen konnte. Während sie dem Kadaver das Fell abgezogen hatte, hatte sie plötzlich die Jungen der Wölfin in einer nahen Höhle winseln hören. Sie war dem Laut gefolgt, hatte den Wurf entdeckt und die Welpen mit einem Stein erschlagen - nicht, um auch deren Fell zu bekommen, sondern weil es ihr gnädig schien, sie schnell zu töten, bevor sie langsam verhungerten. Obwohl ihr keine andere Wahl geblieben war, hatte sie dabei geweint wie schon seit vielen Monden nicht, aus Mitleid mit sich selbst und den jungen Wölfen und vor Überdruss, weil ihr Kampf um den nächsten Tag stets auf Kosten anderer Wesen ging, die doch auch nichts weiter wollten, als zu überleben. Auch in Norvegur hatte Runa Tiere getötet, Biber, Otter und Eichhörnchen, aber es war niemals eine Wölfin mit ihren Jungen darunter gewesen - und niemals ein Mensch.
    Runa zog den Umhang von ihren Schultern und schüttelte ihn, bis die Tautropfen sprühten und der Staub in der Luft tanzte. Nachdem sie ihn wieder umgelegt hatte, kramte sie im Lederbeutel nach Essensresten. Im Winter hatte sie sich vor allem von Fleisch ernährt, nun sammelte sie im Wald Heidelbeeren und Pilze und außerhalb des Waldes Äpfel, Pflaumen und Birnen. Beeren hatte sie noch. Seit Tagen zauderte sie, das schützende Dach der Bäume wieder einmal zu verlassen und die Rodungen, die Wiesen, die Moore oder die mit Reben bepflanzten Hänge nach Nahrung abzusuchen. Anfangs, als sie von der Küste ins Landesinnere vorgedrungen war, hatten ihr die Wälder große Angst gemacht, und sie hatte hinter jedem Baum einen boshaften Troll vermutet, der sie belauerte. Nun war es eine noch größere Überwindung, sich ungeschützt den Blicken von Menschen auszuliefern.
    Runa schob sich ein paar Beeren in den Mund - die Haut war hart, und das Fruchtfleisch schmeckte sauer, aber sie vertrieben das Knurren in ihrem Magen. Plötzlich zuckte sie zusammen. Ein Geräusch ließ sie aufschrecken, kaum vernehmbar und doch beängstigend. Nicht dass es im Wald je still gewesen wäre, dass nicht ständig heruntergefallene Zweige unter Tierbeinen brachen, Vögel durch die Blätter stoben, Geäst im Wind knarrte - dennoch stellten sich Runa bei dem dumpfen Poltern sämtliche Härchen auf.
    Dieses Geräusch klang irgendwie ... menschlich.
    Sie lugte hoch zum Baum, der ihr in der Nacht Schutz gewährt hatte, und überlegte, wieder hinaufzuklettern. Allerdings - ihre Füße hatten Spuren hinterlassen; die Asche, die vom Feuer zurückgeblieben war, würde jedem verraten, dass sich hier keine Tiere herumgetrieben hatten, sondern ein Mensch. Anstatt auf den Baum zu fliehen, duckte Runa sich und huschte durchs Unterholz. Sie

Weitere Kostenlose Bücher