Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
war er selbst in ausreichendem Abstand zu ihr stehen geblieben, ließ lediglich seinen Blick über ihre Gestalt schweifen. Sie musterte ihn ihrerseits genauer, erkannte, dass er noch auffälliger gekleidet war als bei ihrer letzten Begegnung. Inmitten des Waldes wirkte seine Kleidung sonderbar - die bunte Tunika, der Fellmantel, der ob der goldenen eingewebten Fäden schimmerte, das Stirnband, das die Haare zurückhielt. Im fahlen Licht der Bäume schienen seine Haare grünlich. Um den Hals trug er Perlenketten - und ein Amulett, das, wie sie sich nun erinnerte, ihrem Vater Runolfr gehört hatte.
Ein Laut löste sich aus ihrer Kehle - erneut mehr ein Knurren als ein Schrei.
»Ich sollte dich wohl besser nicht Odins Tochter nennen, sondern Wölfin.« Sein Blick war bei ihrem Umhang hängen geblieben. »Oder weißt du etwa gar nicht, dass man dich so nennt - die Wölfin?«
Bis eben hatte sie nicht gewusst, dass sie überhaupt noch einen Namen trug. Niemand rief sie hier Runa, nicht der flüsternde Wind, nicht die kreischenden Vögel, nicht der knackende Waldboden.
»In jedem Falle hast du überlebt«, fuhr Thure fort. »Nicht nur mich, sondern auch den ersten Winter im Nordmännerland. Und glaub mir, ich bewundere das. Ich will gar nicht mehr daran denken, dass du eigentlich mit Runolfr hättest sterben sollen. Was zählt das heute noch? Was zählt es auch, wer ihn meuchelte und warum?«
Für mich, begehrte sie im Stillen auf, für mich zählt es! Ich habe es nicht vergessen!
Doch sie sagte nichts, überlegte nur fieberhaft, wie sie dieser Horde entkommen könnte. An einem Ast könnte sie sich hochziehen ... mit den Beinen gegen jene treten, die bedrohlich nah bei ihr standen ... sich dann zum nächsten Baum schwingen, ihn loslassen und ... rennen.
Doch auch wenn ihr die Flucht gelingen würde - sie hatten sie heute aufgestöbert, sie konnten es morgen wieder tun. Also biss sie die Zähne zusammen und verharrte steif.
»Du hast dir einen Ruf verschafft«, sprach Thure. »Ja, die Bauern sprechen ängstlich über die Wölfin, die manchen der Ihren angefallen hat. Über mich spricht man natürlich auch, und das nicht minder ängstlich. Doch im Gegensatz zu mir hast du es ganz allein geschafft, wie ich neidlos bekennen muss. Ich weiß, wie gut du mit dem Messer triffst, wie schnell du auf Bäume kletterst und wie ausdauernd du der Witterung standhältst. Hast du etwa nicht bemerkt, dass sich unsere Wege manchmal gekreuzt und ich dich beobachtet habe?«
»Soll ich dir beweisen, wie gut ich wirklich mit dem Messer umgehen kann?«, fauchte sie und umklammerte ihre Waffe.
»Pah!«, machte er. »Wenn du mich tötest, bist du auch tot - und davon hätten wir beide nichts. Lass also dein Messer sinken und hör mir zu, Wölfin.«
Die weiteren Worte gingen in einem Rauschen unter. Zu lange hatte sie kein menschliches Wort mehr gehört. Schwierig genug war es gewesen, den bisherigen zu folgen.
Wölfin ... nannte man sie wirklich so?
Nicht nur seine Stimme vernahm sie nun wie aus der Ferne, auch eine andere - die ihrer Großmutter. Geschichten kamen ihr in den Sinn, die Asrun ihr einst erzählt hatte - Geschichten von Fenrir, dem Wolf, der am Ende der Tage Tod und Vernichtung brachte, Geschichten des großen Wikingers Egil, der nicht nur ein Krieger war und England heimsuchte, sondern ein Magier und sich manchmal in der Schlacht in einen Werwolf verwandelte. Geschichten von Berserkern, Helden mit unmenschlichen Kräften, die dann und wann in die Gestalt von Wölfen schlüpften und wie diese heulten.
Nie hatte sie an diese Geschichten gedacht, wenn sie den Wolfspelz umlegte, immer nur, welch eine Wohltat es war, dass er sie wärmte, und welch ein Kummer, dass sie die Wölfin und ihre Jungen hatte töten müssen.
»Also«, schloss indes Thure. »Was hältst du davon?«
Verständnislos starrte sie ihn an - kein Wort, das er eben gesagt hatte, verstand sie.
»Was?«, stieß sie heiser aus.
»Ich weiß, du traust mir nicht«, murmelte er. »Aber ich brauche dich, ich brauche deine Hilfe. Was hältst du von meinem Angebot?«
Schweigen senkte sich über sie, Thure lachte nicht mehr. Sein Blick war starr, die Züge ernst - ob auch aufrichtig, konnte sie nicht sagen. So unbegreiflich es war, dass er tatsächlich ihre Hilfe brauchte, unfassbar erschien ihr die Möglichkeit, dass er ihr im Gegenzug etwas dafür bieten könnte.
»Du hast meinen Vater getötet - und ich soll dir helfen?«, stieß sie aus und erkannte die
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