Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
noch gewusst, was sie wollte: in den Fjord heimkehren, wo sie mit Asrun gelebt hatte. In ein Land, das karg und einsam und gefährlich war, aber nicht blutdurchtränkt wie dieses. Um heimzukehren brauchte sie ein Schiff, und damit das Schiff fuhr, brauchte sie Ruderer, und für Schiff und Ruderer brauchte sie wiederum Gold.
Runa ließ ihren Blick über die Männer schweifen. »Du hast so viele, die mit dir kämpfen. Und ausgerechnet meine Hilfe suchst du, um den Brautschatz dieser Gisla zu stehlen?«
»Genau genommen brauche ich nicht unbedingt dich, sondern eine Frau. Eine Frau, die mit Waffen umgehen kann. Und derer gibt es hierzulande nicht so viele. Bist du dabei? Wenn ja, sage ich dir, wie mein Plan aussieht.«
Sie schwieg verstockt, und er drängte sie nicht zu einer Antwort. Fast treuherzig lächelte er sie an. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass er ihr eigenhändig ein Schwert in den Leib rammen würde, wenn sie sich seinem Vorhaben widersetzte.
K LOSTER S AINT -A MBROSE IN DER N ORMANDIE H ERBST 936
Die Äbtissin entschied sich, nicht zu fragen, wer Arvids Leben bedrohte. Sie wollte ihn nicht bedrängen, ihn nicht quälen, ihn nicht grausame Erinnerungen an seine Verwundung neu durchleben lassen. Es zählte nicht, wer ihm das angetan hatte - wiewohl sie einen Verdacht hegte -, auch nicht, warum er im Kloster und wie er seinem Mörder entwischt war. Es zählte nur, dass er in Gefahr war und bei ihr Zuflucht gesucht und gefunden hatte. Aus Zufall. Oder aus Gottes Fügung.
»Es tut mir leid, was du erfahren musstest«, murmelte sie. »Ich verabscheue den Menschen, der dir das angetan hat. Und doch bin ich überglücklich, dass du seinetwegen hier bist.«
Hier bei mir, wollte sie hinzufügen, aber das wagte sie nicht. Nicht bevor sie sich sicher sein konnte, dass er ihr ... Geheimnis kannte.
Die Äbtissin beugte sich leicht vor und berührte seinen Arm. Er zuckte zurück. Vielleicht vor Schmerzen, vielleicht aus Angst. Oder, was das Schlimmste wäre, aus Verachtung ihr gegenüber.
Seit er im Kloster war, hatte sie sich gegen diese Verachtung gewappnet, doch nun erschien sie ihr unerträglich. Ein Messer riss nicht weniger tiefe Wunden, wenn man es kommen sah. Allerdings - besser war es, sich einem schnellen, heftigen Stoß auszusetzen als langsamer Qual. Sie atmete tief durch und wagte dann die Frage zu stellen, vor der sie sich am meisten fürchtete.
»Du ... du weißt ... es?«, stammelte sie. »Du kennst die Wahrheit?«
Er senkte den Blick. Das Amulett lag unberührt auf seiner Brust. Eine Weile regte sich keiner von ihnen beiden. Der Mund wurde ihr trocken.
Wenn er es nicht wusste, wie es ihm sagen, wie es ihm erklären?
Doch dann nickte er, und sie ließ laut ihren Atem entweichen, erleichtert, dass sie es nicht aussprechen und dass sie die Wahrheit nicht länger verheimlichen musste, zumindest nicht vor ihm. All die letzten Jahre hatte sie sich nie jemandem anvertrauen können. Sie hatte damit zu leben gelernt, aber es hatte Zeiten gegeben, da es ihr schwerer fiel als sonst - so in dem Jahr, als sie vom unrühmlichen Ende König Karls gehört hatte. Er war als Gefangener gestorben, abgesetzt von den Großen des Reichs, gerüchteweise in einem Turm der Burg von Thierry und abgeschieden von allen Menschen.
Die Meinung der Nonnen war damals gespalten gewesen - die einen empfanden es als abscheulich, dass man so mit einem König verfuhr; die anderen meinten, dass er es verdiente nach allem, was er getan hatte. Sein Herz sei feige, erklärten sie gleich dem Adel des Landes. Viel zu großen Einfluss habe er an Hagano abgetreten, viel zu dreist einen Aufstand provoziert.
Die Äbtissin hatte sich damals eines Urteils enthalten. Sie wusste mehr über den König als all die Nonnen, und es fiel ihr schwer, allein mit der Erkenntnis zu leben, dass sein Opfer nichts wert gewesen war, dass er einen Pakt mit den Nordmännern geschlossen und seine Tochter verkauft hatte, um Lothringen zu bekommen, und am Ende nicht nur das Land im Norden seines Reichs, seine Tochter und dieses Lothringen verloren hatte, sondern auch seine Krone.
»Ehrwürdige Mutter?«
Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch. Sie war es gewohnt, stundenlang über etwas nachzusinnen, aber nicht, dabei beobachtet zu werden.
Arvid starrte sie an - lauernd, wie ihr schien.
»Es ... es ist gewiss nicht leicht«, murmelte sie.
Wieder sprach sie nur einen Teil ihrer Gedanken aus und fügte im Stillen hinzu: nicht leicht, damit zu leben
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