Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
genug sein, um zu wissen, wie man sich als Königstochter beträgt«, hatte Fredegard erklärt.
In diesem Augenblick wirkte Aegidia allerdings nicht klug, sondern verängstigt, und ihre Kleidung glich nicht der einer Adeligen, sondern wirkte einfach.
Wie sich diese Kleidung wohl anfühlt?, überlegte Gisla.
Aegidia trug ein graues Leinenkleid und eine Palla darüber, ebenfalls grau und mit Pelz verbrämt. Die hochgeschnürten Schuhe sahen härter aus als ihre, die Haare waren unter einem groben Tuch verborgen. Bis auf die Brosche, die die Palla auf der Brust zusammenhielt, besaß Aegidia keinen Schmuck.
Um vieles prächtiger fiel Gislas Gewand aus: Die Fränkinnen trugen bei ihrer Hochzeit Rot, und auch wenn Gisla Rollo erst viel später, nach seiner Taufe, heiraten würde, hatte ihr Untergewand mit den weiten Ärmeln und der hochgeschnürten Taille diese Farbe. Rot war auch der großzügige Umhang, und rot waren die Haarbänder, die ihre Zöpfe hielten. Der Gürtel war aus feinem braunem Leder und mit unzähligen kleinen Edelsteinen besetzt. Auch das Band, in das der Schleier über ihren Zöpfen eingefasst war, funkelte, nicht ob der Edelsteine, sondern weil es mit goldenen und purpurfarbenen Fäden durchwebt war. Ihr Hals war mit schweren Halsketten geschmückt, die bis zur Taille reichten.
Auch wenn Gisla immer noch zögerte, sich zu entkleiden, so nahm sie doch eine dieser Ketten ab und ließ sie durch ihre Finger gleiten.
Wenn nur Begga hier wäre!, dachte sie seufzend. Sie würde die rechten Worte finden, auf dass sie endlich zur Täuschung schreiten konnten!
Der König hatte darauf bestanden, dass die Mutter schon in Laon Abschied von Gisla nahm und mit ihr auch die einstige Amme. Zu viel Unruhe würde entstehen, wenn die Frauen die Tochter begleiteten, hatte er gesagt und offengelassen, wer sich an dieser Unruhe am meisten stören würde: Fredegard, Gisla oder vielmehr er selbst.
Gisla hob die Kette und ließ sie in der Luft kreisen, doch Aegidia missachtete den Schmuck und begann stattdessen aufgeregt zu plappern - so schnell, so atemlos, dass Gisla sich unwillkürlich fragte, wie jemand, der so viel redete, das Geheimnis würde hüten können: das Geheimnis, dass sie ihre Rollen tauschen würden - dass nicht sie, sondern Aegidia an ihrer statt Rollo heiraten würde.
Sie sei stolz und glücklich, für diese Aufgabe auserwählt worden zu sein, beteuerte Aegidia zum wiederholten Male, aber sie machte keine Anstalten, diese Rolle tatsächlich einzunehmen, und ihre Augen glänzten nicht glücklich, sondern wie im Fieber.
»Der König hat Rollo eigentlich Flandern als Lehen angeboten, doch Rollo wollte Flandern nicht, und der dortige Graf Balduin hätte es ihm wahrscheinlich auch nicht gegeben«, sagte Aegidia jetzt. »Hier im Norden gibt es ja keinen Grafen oder zumindest nicht mehr, seit die Nordmänner ihn meuchelten. Ich frage mich, wie dieses Gebiet nun heißen wird - Nordmännerland kann man es doch nicht länger nennen. Wenn sie erst einmal getauft sind, dann sind sie doch keine Nordmänner mehr, nicht wahr? Allerdings - auch wenn sie getauft und keine Heiden mehr sind, dann stammen sie immer noch aus dem Norden.« Ihr Blick flackerte. »Weißt du eigentlich, wie der Lehnseid lautet, den Rollo sprechen wird?«, fragte sie dann abrupt.
Sie wartete Gislas Antwort nicht ab. »Ich will lieben, was du liebst, und hassen, was du hasst«, erklärte Aegidia bestimmt. Erneut ließ sie Gisla keine Zeit, etwas hinzuzufügen, sondern fuhr rasch mit ihrer Rede fort. »Rollo hat einen Bruder namens Ivar, hast du davon gehört? Es ist merkwürdig, sich vorzustellen, dass er eine Familie hat. Bruder Hilarius hat schließlich behauptet, die Hölle habe ihn ausgespuckt, aber wenn er einen Bruder hat, dann wohl auch eine Mutter, und die wird ihn nicht ausgespuckt haben, sondern geboren, wie jedes andere Weib auch seine Kinder gebärt.«
Endlich hielt die junge Frau inne. Ihre Augen glänzten immer noch - jetzt nicht mehr fiebrig, sondern vor Tränen.
Woher weißt du das?, wollte Gisla fragen, stattdessen kam ihr unwillkürlich über die Lippen: »Hast du Angst?«
Sie selbst hatte Angst, große Angst, erdrückende Angst. Ihre Mutter hatte zwar einen Weg gefunden, wie sie der Heirat mit dem riesigen, grausamen Nordmann entgehen konnte - aber allein den bevorstehenden Kleiderwechsel durchzuführen erschien ihr ungeheuerlich. Und auch wenn Aegidia ihre Rolle einnehmen würde, musste sie sie dennoch nach Rouen
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