Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
jeder Schritt in die falsche Richtung, dachte sie dann. Vielleicht werde ich nie wieder nach Hause kommen. Vielleicht kann ich niemals jemandem anvertrauen, was diese Popa plant. Vielleicht werde ich in diesem Wald sterben - und Aegidia in Rouen.
Um sich von ihren Ängsten abzulenken, versuchte sie sich an alles zu erinnern, was sie je über das Reich ihres Vaters gehört hatte, wie die wichtigsten Städte hießen, wie groß es war und woran es grenzte. Stunden verbrachte sie damit, wieder und wieder die Länder aufzuzählen, die neben dem Kerngebiet des Kronlandes lagen - die Grafschaft Vermandois, wo der mächtige Heribert regierte, das Herzogtum Burgund, nicht minder reich und von einem Rudolf beherrscht, Aquitanien schließlich, das in viele kleine Provinzen aufgesplittert war, die im steten Krieg gegeneinander lagen. Dann gab es die Francia rund um Paris, seit Jahrzehnten in den Händen der Nachfahren des berühmten Roberts des Starken, Flandern, dessen Graf mit dem von Vermandois zerstritten war, und die Britannia minor, ähnlich dem Nordmännerland von unzähligen Heiden heimgesucht und großteils in deren Händen. Die Britannia minor, das wusste Gisla, lag im Westen, und im Westen ging auch die Sonne unter, deren rot verglühende Strahlen an manchen Abenden durch das Blätterdach fielen.
Doch auch wenn sie wusste, wo Osten und Westen war, wo Süden und Norden - wie weit sie von welcher Stadt entfernt waren und wie all die Länder, von denen sie nur gehört, die sie aber nie besucht hatte, aussahen, wusste sie nicht. Gisla kannte nur Laon und Saint-Clair-sur-Epte, Rouen und Reims - Letzteres nicht weit von Laon entfernt, die Stadt, wo die Könige mit dem Öl des heiligen Remigius gesalbt wurden und die ihre Mutter als Caput Franciae bezeichnete, als Haupt des Frankenreichs. An den einstigen Besuch konnte sie sich erinnern - an den Weg, der dorthin führte, nicht.
Wenn es Abend wurde, wurde sie so müde, dass ihre Gedanken verstummten. Wie immer ließ Runa sie dann kurz allein, kehrte später mit einem erjagten Tier zurück und einmal sogar mit Wildfrüchten: Äpfeln, Beeren und Nüssen. Die Äpfel schmeckten nicht süß wie das Obst in Laon, sondern faulig, die Beeren so, als würde man auf einem Stück Leder herumkauen, das zu lange heftigem Regen ausgesetzt gewesen war, und als sie auf die Nüsse biss, war sich Gisla gewiss, dass gleich sämtliche ihrer Zähne ausfallen würden.
Sie schluckte ergeben, aber seufzte traurig. Ihre Sehnsucht nach Geborgenheit konnte sie unterdrücken - nicht aber die nach gutem Essen. Der Gedanke an krosses Brot ließ ihren Mund wässrig werden, jener an cremige Butter, an gelben Käse, an saftige Rinderlenden am Spieß den Magen knurren. Sie hatte nie sonderlich viel gegessen, dies aber stets mit gutem Appetit, und sie hatte immer Mitleid mit dem Priester gehabt, der sie im Glauben unterwies, und der - wie er behauptete - sich nur von Fisch und Birnen ernährte, um Gott zu verehren und den Verlockungen der Welt zu trotzen. Der gleiche Priester war es auch gewesen, der ihr außerhalb der Kirche zu singen verboten hatte.
Kann ich wohl noch singen?, fragte Gisla sich eines Tages. Erst wagte sie es nicht, es zu versuchen. Inmitten der Laute des Waldes schien es ihr fehl am Platz. Doch dann wurde der Drang übermächtig, sich zu vergewissern, dass in der zitternden, frierenden, hungernden Gisla noch ein wenig von dem behüteten Mädchen von Laon steckte. Sie öffnete den Mund, brachte zuerst nur ein Summen heraus, formte schließlich Worte eines Psalms. Aus dem Gemurmel wurde ein Singsang, aus den tiefen Klängen immer höhere.
Während sie sang, starrte sie stur auf ihre Hände und versuchte sich einzureden, dass sie nicht im Wald war, sondern in ihrer Kirche, ja, dass Wille, Gesang und Hoffnung stark genug wären, inmitten der unwirtlichen Fremde ein Stück vertraute Welt zu schaffen.
Kurz schien es zu glücken, das Unheil zu vergessen, doch plötzlich kam Runa auf sie zugesprungen, blitzschnell und wendig, als würde sie einen Hasen jagen. Noch ehe Gisla zurückweichen konnte, hatte ihr die junge Frau einen Schlag auf den Mund versetzt. Runa schrie beängstigend, und am schlimmsten war, dass sich ihre dunklen Augen mit Tränen füllten. Gisla schmerzte der Mund, dann wurden ihre Lippen taub. Auch in ihre Augen traten nun Tränen, Tränen, die nicht nur vom Schrecken und Schmerz rührten, sondern von der Ohnmacht, dass sie nicht miteinander sprechen konnten, dass sie Runa
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