Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
nicht erklären konnte, dass sie sie nicht hatte verärgern wollen. Gisla sank kraftlos zu Boden und legte den Kopf auf die Knie. Sie fühlte sich einsam wie nie.
Am nächsten Morgen wagte sie kaum, Runa in die Augen zu sehen. Diese schien sich beruhigt zu haben, aber nicht minder damit zu hadern, dass sie nicht miteinander sprechen konnten. Anders als Gisla nahm sie es nicht schweigend hin, sondern deutete beim Gehen nun stets voller Ungeduld auf Bäume, Moos, Vögel, ihre Kleidung, selbst auf die Haare. Eine Weile sah ihr Gisla dabei unverständig zu, dann ging ihr auf, dass Runa die Worte dafür hören wollte. Sie nannte sie, und Runa wiederholte sie, und bis es Mittag wurde, beherrschte sie zwei Dutzend. Als es nichts mehr im Wald zu sehen gab, dem Gisla noch keinen Namen gegeben hatte, wollte Runa wissen, was es hieß, zu schlafen, zu essen, zu gehen, und lernte auch diese Wörter schnell. Es war nicht viel, was sie in ihrem Leben taten, außer zu essen, zu jagen, Feuer zu machen und zu schlafen, so gab es alsbald nicht viel mehr zu lernen.
Schlaf brauchte Runa allerdings nicht viel. Es war Gisla schon in den ersten Tagen aufgefallen - Runa war noch hellwach, wenn sie schon einnickte, und am Morgen längst auf den Beinen, wenn sie sich noch schlaftrunken die Augen rieb. Diese stille Zeit des Tages nutzte Runa zum Üben - nicht von fremden Wörtern, sondern zielgenau ihr Messer zu werfen. Oft wurde Gisla von dem dumpfen Laut einer Klinge geweckt, die im Stamm eines Baumes stecken blieb, den Runa anvisiert hatte.
Eines Tages wurde Gisla von etwas anderem geweckt. Sie riss die Augen auf und blickte in das Gesicht eines fremden Mannes. Vielleicht war es gar kein Mann, vielleicht war es der Teufel selbst, so grässlich, wie er anzusehen war: Sein Gesicht war voller Narben, die Augen gelblich, das Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, und die Kleidung war bizarr. Als Gisla den Mund öffnete, um zu schreien, spürte sie die Klinge eines Messers an ihrer Kehle. Es war kalt und scharf und drückte sich tief in ihre Haut.
Runa erwachte sofort. Selten hatte sie so lange und tief geschlafen, selten etwas so bereut. Zeit, damit zu hadern, hatte sie nicht. Kaum hatte sie erfasst, was vor sich ging, war sie schon aufgesprungen, hatte sich an einem Ast hochgezogen und war auf einen Baum geklettert. Unten stand Thure inmitten seiner Männer. Er bedrohte Gisla, die, eben noch starr vor Schreck, jetzt gellend schrie.
Runas Gedanken überschlugen sich. Ein entsetztes »O nein!« entfuhr ihren Lippen. Ob Thure wohl wusste, dass Gisla die fränkische Prinzessin war? Und wenn er es wusste, würde er sie als Geisel nehmen? Bestimmt tat er das. Ihr selbst hingegen stünde dann der Weg zur Flucht frei. Ohne Gisla wiederum hatte sie keine Aussicht auf Heimkehr. Und während sie noch um eine Entscheidung rang, kam ihr der Gedanke, dass Thure nur aus diesem Grund so lange zögerte zu handeln: Er ahnte von ihrer Zerrissenheit. Und weidete sich daran.
Plötzlich ertönte ein Knacken, und ehe Runa ihr Gewicht verlagern konnte, brach der Ast, auf dem sie saß. Sie fiel Thures Männern geradewegs vor die Füße. Bevor sie aufspringen und nach ihrem Messer greifen konnte, spürte Runa auch an ihrer eigenen Kehle eine kalte Klinge. Zwei von Thures Männern hielten sie fest.
Sie presste die Augen zusammen, öffnete sie wieder. Vor ihren Augen schien es zu flimmern, und doch sah sie gut genug, dass Thure auf sie zuschritt.
»Sieh an, sieh an«, meinte er anerkennend, »du willst also ganz allein das Lösegeld.«
Er glaubte tatsächlich, sie hätte von Anfang an geplant, die fränkische Prinzessin zu entführen. So fiebrig wie seine Augen leuchteten, schien er begeistert - nicht unbedingt darüber, dass sie ihn verraten hatte, jedoch darüber, dass sie gerissener war, als er ihr zutraute.
Sie konnte es nicht abstreiten. Ihr Mund war zu trocken, um etwas zu sagen.
Thures Augen glänzten jetzt gefährlich. »Nun habe ich schon zum zweiten Mal gegen dich den Kürzeren gezogen«, fuhr er raunend fort. »Was soll ich nur mit dir tun? Welche Strafe wäre angemessen?«
Sie fand ihre Stimme wieder, eine nur heisere zwar, aber dennoch hasserfüllte. »Eine Strafe verdient nur, der Unrecht tut!«, zischte sie. »Ich dachte, du unterscheidest nicht zwischen Recht und Unrecht, sondern bist einfach nur grausam.«
Er tat, als würde er lange nachdenken und seine Worte sorgsam abwägen, um dann grinsend zu verkünden: »Das stimmt. Wenn ich es genau
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