Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
wieder höher gleiten, über ihr Kinn, ihre Wangen, ihre Stirn, zärtlich, als würde er sie liebkosen.
»Ja - was will ich eigentlich?«, wiederholte er. »Nun, zunächst einmal bist du mir zu schön für diese Welt, liebste Runa. Menschen, die kämpfen und lügen und zur List greifen, sehen aus wie ich. Sie haben Narben.«
Thure ließ das Messer nicht länger über ihr Gesicht fahren. Die Klinge bohrte sich in ihre Haut. Er wird sie aufschlitzen, ging Runa durch den Kopf, er wird mir das Gesicht zerschneiden, mir vielleicht mehr zufügen als nur Schnitte, die Narben hinterlassen, wird mir die Nase abhauen, die Augen ausstechen, die Ohren abschneiden.
Wie aus weiter Ferne vernahm Runa Gislas Gellen. Runa unterdrückte einen Schrei, als das Messer immer tiefer schnitt. Sie sah einen Blutstropfen darüberrinnen, den Thure so verzückt beobachtete, als wäre er aus purem Gold.
Ganz plötzlich verstummte Gislas Schreien. Nein, es verstummte nicht, es wurde von Pferdegetrappel und lautem Gebrüll übertönt.
Thure zog das Messer zurück und fuhr herum. Runa fühlte nicht länger die kalte Klinge. Was sie jedoch fühlte, war der Schmerz, den der Schnitt auf ihrer Haut hinterlassen hatte ...
Ein Pferd durchbrach das Gebüsch, andere folgten so rasch, dass Runa vermeinte, all die Hufe, Füße, Hände, Köpfe seien zu einem einzigen Wesen verschmolzen und dieses nicht der Menschen-, sondern der Götterwelt entsprungen, um sie zu retten. Doch dann sprangen die Reiter zu Boden, und sie erkannte, dass es gewöhnliche Menschen waren, und auch, dass sie nicht als Retter gekommen waren.
Runa presste sich an einen Baum und hielt Ausschau nach Gisla, konnte sie aber weder entdecken noch schreien hören. Sie hörte nur das Klirren von Waffen und das Stöhnen der Kämpfenden. Drei Männer Thures wurden niedergestreckt, ehe sie sich wehren konnten - die restlichen wurden ihrer Überraschung ob des unerwarteten Angriffs rasch Herr. Erst jetzt gewahrte sie, dass es sehr viele waren, obwohl Thure doch wenige Tage zuvor erst, beim Angriff auf Gislas Gefährt, die meisten verloren hatte. Sie fragte sich, wie er sie so schnell hatte ersetzen können und was er ihnen zu gewinnen versprach, wenn nicht nur den Tod.
Diesen Tod wollten sie jedoch nicht hinnehmen, sondern kämpften verbittert dagegen an.
Runa sah einen Mann auf sich zukommen, nicht sicher, ob er zu Thure gehörte oder nicht. Sein Gesicht war so grimmig, dass sie nach ihrem Messer griff und es nach ihm schleuderte. Ob sie ihn getroffen hatte oder nicht, konnte sie nicht erkennen, denn unmittelbar vor ihr sanken drei gleichzeitig nieder. Runa duckte sich, presste sich wieder an den Baum und ließ sich langsam auf die Knie sinken. Dann robbte sie zu einem der Toten, nestelte an dessen Gürtel und nahm sich sein Messer.
Sie hatte sich noch nicht wieder erhoben, als sie hinter sich einen Schatten wahrnahm. Runa versteifte sich, drehte sich dann blitzschnell und stieß zu. Diesmal ließ sie den Knauf des Messers nicht los. Der Getötete sackte leblos zusammen, und fast drohte sie unter seinem Gewicht begraben zu werden. Keuchend stieß sie ihn von sich, während sie das blutüberströmte Messer aus dem Leib zog.
Heiß stieg ihr der Triumph ins Gesicht, doch ehe Runa sich dem Gefühl hingeben konnte, die Stärkere zu sein, nahm sie aus den Augenwinkeln erneut eine Bewegung wahr. Sie wollte das Messer wieder heben, als sie erkannte, dass es Gisla gelungen war, sich aus dem Kampfgetümmel zu retten. Ihr Blick war glasig wie der des Toten, als sie von dem Mann zu Runa sah, dann wieder zu ihm zurück.
Gisla stieß ein paar Worte in ihrer Sprache aus, die Runa nicht verstand, aber sie glaubte ihrem Gesichtsausdruck zu entnehmen, dass sie entsetzt war.
»Er hätte ansonsten mich getötet«, erklärte sie hastig und packte Gisla am Arm.
Widerwillig ließ diese sich in Richtung Gebüsch ziehen, und drei Schritte lang hegte Runa die Hoffnung, dass sie es dorthin schaffen und sich verstecken könnten. Aber dann stand plötzlich ein Mann vor ihnen, und sein Gesicht war ihr seltsam vertraut. Es war jener, den sie im Kerker überwältigt hatte.
Einen Augenblick starrten sie sich reglos an, dann handelte Runa blitzschnell. Sie stieß Gisla zur Seite und sprang mit dem Messer in ihrer Hand auf ihn los. Er wich ihr erst aus, packte dann den Arm, mit dem sie ihre Waffe hielt, und drehte ihn schmerzhaft auf den Rücken. Doch so schnell gab sie nicht auf: Sie tat, als wäre sie
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