Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
betrachte, will ich mich auch gar nicht an dir rächen. Ich brauche in der Tat keinen Grund für ... das hier.«
Sie wappnete sich mit jeder Faser ihres Körpers dagegen und vermeinte dennoch, in der Mitte entzweizureißen, als er langsam die Faust hob und sie dann umso härter in ihren Magen stieß, sie wieder hob und es ein zweites Mal tat, ohne dass sie ausweichen konnte. Er bekam nicht genug davon, drosch wieder und wieder auf sie ein, und der Schmerz war so gewaltig, dass sie beinahe die Besinnung verlor. Als er endlich von ihr abließ, spürte sie nur noch Pein.
»Warum bist du so?«, rief Runa keuchend.
Aus ihrem Mund tropfte Blut oder Speichel, es schmeckte bitter. Thure stand da, die Hände über der Brust verkreuzt. Sein Atem, eben noch schwer, ob der Anstrengung, sie zu schlagen, beruhigte sich.
»Nicht ich bin so - so ist die Welt«, erklärte er mit leisem Überdruss, stieg, wie es ihm eigen war, auf Zehenspitzen und ließ sich wieder zurück auf die Ferse fallen, »denn die Welt geht aus Yggdrasil hervor, und Yggdrasil ist morsch. Schlangen knabbern an den Wurzeln der Esche; Hirsche fressen die jungen, frischen Triebe, und die Rinde wird von Fäulnis zersetzt.«
Runa senkte ihren Blick. Sie konnte nicht gleichzeitig ihn ansehen und an die Worte ihrer Großmutter denken, die die seinen heraufbeschworen. Kalt klang Thures Stimme - Asrun hingegen hatte geheimnisvoll gewispert, als sie ihr von Yggdrasil erzählt hatte, dem Weltenbaum, dessen Spitzen in den Himmel reichten und dessen Wurzeln die ganze Welt umspannten, die Welt der Menschen, der Götter, der Riesen und der Toten. Yggdrasil wuchs an einer Quelle, und an dieser Quelle hockten die Nornen und spannen das Schicksal der Menschen. Sie besprengten Yggdrasil mit dem heilenden Wasser der Quelle, aber es war immer zu wenig, um der Fäulnis Einhalt zu gebieten, die an ihm hochkroch.
Es ist nie genug, dachte Runa. Es reicht nie. Am Ende verliert man immer.
In den letzten Tagen hatte sie nach langer Zeit wieder Hoffnung gehegt, dass alles gut werden könnte, doch die Fäden, aus denen die Nornen ihr Schicksal webten, waren wohl besonders brüchig. Wie sonst konnte es geschehen, dass sie immer wieder in Thures Hände geriet?
Der hob jetzt die Hand und schlug sie erneut, nicht ganz so fest wie zuvor, doch mit echtem Zorn. Der Zorn erleichterte Runa. Trotz allem machte er ihn menschlich. Doch leider erlosch er viel zu schnell, und zurück kehrte der Wahnsinn.
Thure begann, dröhnend zu lachen. »Ja, nicht ich bin so, die Welt ist so! Yggdrasil ist faul, die Götter leben in steter Zwietracht, die Menschen wiederum ...« Er bückte sich nach dem Ast, der unter ihr gebrochen war. Runa dachte, er wollte sie mit ihm anstelle seiner Fäuste prügeln, doch stattdessen fuhr er fort: »Die ersten Menschen, Ask und Embla, sind aus Baumstämmen geformt worden. Und ich denke mir oft, dass ihr Holz so faulig und morsch war wie das von Yggdrasil.«
Er brach den Ast entzwei, warf ihn zu Boden und trampelte darauf herum, bis er in viele kleine Teile zerborsten war. »Kein Wunder, dass man die Menschen so leicht brechen kann, wo sie doch aus morschem Holz gemacht sind! Und wenn sie gebrochen sind, haben sie keinen anderen Nutzen, als dass man sie ins Feuer wirft! Ach ... Da wir gerade davon sprechen ... Es ist ziemlich kalt hier, sollten wir nicht ein Feuer machen, um uns zu wärmen?«
Runa unterdrückte ein Schaudern.
»Was willst du von mir, Thure?«, fragte sie.
»Hm«, machte er, keinen Gedanken mehr an das Feuer verschwendend. »Du bist mir ausgeliefert. Dass du so listig bist, gefällt mir. Denn auch so ist die Welt - ein Ort, an dem nur durchkommt, wer listig ist. Niemand hat das so gut durchschaut wie ... Loki.«
»Was willst du von mir?«, fragte Runa wieder - und diesmal schrie sie.
Thure wechselte vom einen auf den anderen Fuß, als gäbe es nicht genügend Platz, mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen. »Das ist in der Tat eine gute Frage: Was will ich eigentlich? Die meisten Menschen haben keine Freiheit, etwas zu wollen, sondern tun das, was sie müssen. Ich müsste dich töten, so schwer, wie du mir das Leben machst, aber ich will so ungern etwas müssen. Zugleich bin ich mir nicht sicher, ob mein Wille reicht, dich am Leben zu lassen.«
Blitzschnell griff Thure nach seinem Messer, das wieder in seinem Gürtel gesteckt hatte, und hielt es ihr vors Gesicht, fuhr langsam tiefer, erreichte ihre Kehle, umspielte diese. Dann ließ er die Spitze
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