Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
selbst zu glauben, und Fredegard schien ihr gar nicht erst zuzuhören. »Nein, ich ertrage es nicht«, beharrte sie. »Nie wieder will ich erleben, dass der König seinen Blick vor mir senkt, weil er es nicht wagt, mir in die Augen zu sehen! Und keine Nacht schlafe ich mehr dort, wo man mein Kind verraten hat!«
»Aber was wollt Ihr tun?«, fragte Begga.
Sie bekam Angst. Schlimm genug, aus Gislas Bett verbannt zu sein. Schlimm genug, den Schützling in der Fremde unter Feinden zu wissen. Doch was blieb vom gewohnten Leben, wenn keine der beiden Frauen mehr ihrer Dienste bedurfte?
Fredegard wischte sich die Tränen ab. »Ich werde fortgehen, ich bleibe keine Nacht mehr. Wenn Gisla im Frühling kommt, musst du sie an meiner statt empfangen und zu mir schicken!«
»Doch wohin?«
Fredegard verriet ihr ihre Pläne. Dass keine neuen Tränen ihre Worte begleiteten, sondern diese so entschlossen klangen, vergrößerte Beggas Angst. Die Angst vor der Einsamkeit, die Angst vor dem Winter und die Angst, nie wieder in einem weichen Bett schlafen zu können.
Die Zeit verrann, der Kampf, den Runa um Gislas Leben ausfocht, blieb lange unentschieden. Auf jeden Schritt nach vorn schien einer zurück zu folgen.
Ja, Gisla stöhnte, und ja, der Blutfluss kam zum Erliegen, aber wenig später verlor sie das Bewusstsein wieder, und wenn aus der Wunde auch kein neues Blut kam, dachte Runa daran, wie entsetzlich sie aussah: wie ein schwarzer Krater, dessen Ränder unmöglich wieder zusammenwachsen konnten.
Runa schnürte den Wolfspelzstreifen noch enger um Gislas Oberschenkel, hob sie schließlich auf ihre Schultern und trug sie tiefer in den Wald hinein. Das Gewicht machte ihr nicht so viel aus, aber mit jedem Schritt wuchs die Angst, eine Tote zu schleppen und es nicht einmal zu bemerken.
Wenn der Fluss tatsächlich die Epte gewesen war, dann befanden sie sich nun im Frankenland, aber der Wald sah genauso aus wie die Wälder im Gebiet der Nordmänner: Die Böden waren sumpfig, die Äste kahl, das Herbstlaub unter ihren Füßen vermodert. Dann stieß Runa auf etwas, was sie im Nordmännerland seit langem nicht gesehen hatte - eine Höhle, nicht sonderlich tief und hoch, aber dennoch ein Ort, um sich darin verkriechen zu können. Vorsichtig legte sie Gisla auf den halb erdigen, halb steinigen Boden.
Runa nahm erleichtert Gislas erneutes Stöhnen wahr. Sie überlegte, ob sie die Wunde nähen sollte, aber mit der Nadel, die sie besaß, hatte sie bis jetzt immer nur in Fell und Leder gestochen, nie in menschliche Haut. Sie wagte es nicht, um nichts Falsches zu tun - sicherlich war es auch besser, den notdürftigen Verband noch nicht so schnell wieder zu entfernen. So beschränkte sie sich lieber auf das, was sie konnte: ein Feuer entfachen und ein Tier erjagen.
Als Runa mit ihrer Beute zurück in die Höhle kam, war Gislas Haut nicht mehr durchsichtig und kalt, sondern glühend rot. Sie schwitzte. Lag es am Feuer oder aber am Fieber?
Runa blickte seufzend auf sie herab. Einmal hatte sie selbst Fieber gehabt, nachdem sie zu lange im kalten Fjord geschwommen war, und damals hatte ihr die Großmutter einen Kräutersud gebraut. Aber sie wusste nicht, aus welchen Kräutern er bestanden hatte, um es ihr gleichzutun, und selbst wenn sie es gewusst hätte, hätte sie diese Kräuter im Wald nicht gefunden. So konnte sie nichts anderes tun, als sich zu ihr zu hocken und ihren Leib an Gislas zu pressen. Sie konnte das Fieber nicht senken, ihr aber das Gefühl geben, nicht allein zu sein.
Angst packte sie, die gleiche Angst wie zuvor - die Angst, später neben einer Toten zu erwachen.
Zuletzt war die Erschöpfung größer als die Angst, Runa nickte ein, versank in Schwärze, und als sie die Augen aufschlug, lebte Gisla immer noch. Nicht nur Stöhnen kam aus ihrem Mund, sondern die ersten klaren Silben. Ihre Augen blickten glasig, während sie fragte, was geschehen war.
Runa antwortete nicht. Viel dringlicher erschien es ihr, ihr etwas zu trinken zu geben. Da sie kein Gefäß hatte, um Wasser zu holen, überlegte sie, Gisla zurück zum Fluss zu schleppen. Schließlich entschied sie sich dagegen und und trat alleine ins Freie. Der Regen hatte nachgelassen, der Waldboden war von tiefen Pfützen übersät. Runa beugte sich über eine von ihnen, ließ ihren Wolfspelz mit diesem bräunlichen schlammigen Wasser vollsaugen und presste ihn später an Gislas Lippen. Das meiste Wasser troff über Kinn und Brust, aber das wenige, was sie schluckte,
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