Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Klöster und Städte zu verwüsten. Brach Rollo wiederum den Waffenstillstand, würden die Franken begreifen, dass man nicht Seite an Seite mit den Nordmännern leben konnte, dass es nur eine Möglichkeit gab, ihrer Herr zu werden: nicht, indem man ihnen Land abtrat, sondern indem man sie aus diesem Land jagte. Für immer. Gerne hätten sie ihn selbst in den fremden Norden verschleppen können, wenn er nur gewusst hätte, dass das Frankenreich von dieser Heimsuchung befreit wäre.
Aber Gisla war verschwunden, und niemand würde ihm glauben, wer die Frau, die im Palast des Bischofs schlief, in Wahrheit war.
»Verdammt!«, knurrte er noch einmal.
Einer der Männer trat auf ihn zu. »Was sollen wir nun mit ihm machen?«, fragte er.
Taurin starrte ihn verständnislos an. »Mit wem?«
»Nun, mit ihm ...«
Taurin folgte seinem Blick. Einige Tage zuvor hatten sie fast alle dieser vagabundierenden Räuber abgeschlachtet - den Anführer hatten sie jedoch am Leben gelassen. Zumindest hatte er aus dessen edler Kleidung geschlossen, dass er der Anführer war.
»Sollen wir ihn töten?«
Eigentlich war die Kleidung nicht edel, sondern hing ihm in Fetzen vom Leib - selbst wenn man sie nähte, würde sie hässliches Flickwerk bleiben. Auch sein Gesicht glich Flickwerk. Da schien nichts zusammenzupassen - der nachdenkliche Blick nicht zum hysterischen Lachen, die bleiche Haut nicht zu den roten verzerrten Lippen, die vielen Narben nicht zum trotzigen Kinn.
»Nein«, erklärte Taurin, »wir töten ihn nicht ... noch nicht.«
Widerwillig schritt Taurin auf den Mann zu. Bis jetzt hatte er sich nicht weiter mit ihm abgegeben, aber vielleicht konnte diese Kreatur ihm sagen, wer die Frau mit den schwarzen Augen war und warum sie wie ein Mann kämpfen konnte.
Ehe Taurin eine Frage stellten konnte, begann der Mann von sich aus zu sprechen.
»Du hättest früher meinen Rat erbitten sollen, dann hätte ich dir sagen können, dass es nicht genügt, sie nur zu verfolgen. Sie ist geschickt, sie ist mutig, vor allem ist sie stark.«
Er sprach voller Verachtung, als wäre nichts davon etwas, was Respekt verdiente.
»Wer ist sie? Und wer bist du?«
»Ich bin wer? Sie ist wer?«, gab er zurück, seine Worte grotesk verdrehend. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube nicht, dass wir wer sind. In diesem Land sind wir in Wahrheit allesamt nichts und niemand.«
In Taurin stieg Zorn hoch, gleißend, aber nicht heiß. »Sag mir ihren Namen und deinen auch!«
»Und wenn ich es nicht will?«, fragte der Mann und versiegelte die roten Lippen.
»Dann hole ich es mit Gewalt aus dir heraus.«
Die einzige Antwort, die Taurin erhielt, war ein spöttisches Grinsen.
Es war gut, dass die Königstochter so leicht war - nur darum gelang es Runa, sie trotz der reißenden Strömung zum Ufer zu bringen und sie die Böschung hochzuschleppen. Trotzdem versagten kurz Runas Kräfte, als sie endlich festen Boden unter den Füßen fühlte. Ihre Knie gaben nach, sie sank auf die Erde. Gisla rollte von ihren Schultern, dann rutschten sie beide die andere Seite der Böschung hinab. Sie fanden sich auf einem Moosbett unter einem Dach aus Blättern wieder: Hinter dem Fluss stand dicht und grün der Wald.
Gisla war auf dem Bauch zu liegen gekommen, und Runa wälzte sie rasch auf den Rücken, um ihre Verletzungen in Augenschein zu nehmen. Es hatte nicht nur Gutes, dass die Königstochter so leicht war: Ihr Körper verfügte über zu wenig, was er Kälte und Blutverlust entgegensetzen konnte, der Lebenswille schien verbraucht zu sein. Gisla lag reglos da wie eine Tote. Die Haut schien durchsichtig zu werden, die Adern dahinter traten dunkel wie Gewürm hervor.
Runa beugte sich über sie und rüttelte sie sanft. Gisla wirkte noch kleiner und dünner als sonst, gleichsam so, als wäre sie geschrumpft. Immerhin hob und senkte sich die Brust - ein Zeichen dafür, dass sie nicht ertrunken war. Allerdings würde sie verbluten, wenn es Runa nicht schaffte, die Wunde zu versorgen.
Der Pfeil hatte Gislas Oberschenkel getroffen - Runa sah nur rohes Fleisch und Blut, viel Blut. Die blauen Würmer spien es unermüdlich aus. Das Geschoss war zwar nicht stecken geblieben, hatte jedoch eine große, klaffende Wunde hinterlassen.
»Gisla!«, rief Runa, erst leiser, dann lauter. Wieder schüttelte sie sie leicht, presste dann beide Hände auf die Wunde und spürte die Wärme des schwindenden Lebens. »Gisla!«
Sie hoffte noch, aber sie glaubte nicht mehr, dass sie es schaffen
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