Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
begraben lagen, den Gottesdienst besucht. Der Gedanke, von so vielen Toten umgeben zu sein, die längst zerfallen und ein Zeichen dafür waren, dass zu Staub wird, was aus Staub ist, hatte ihr seinerzeit Angst gemacht. Jetzt dachte sie, dass manche der Lebenden viel gefährlicher waren als die Toten.
Anders als beim Marienkloster war die Pforte nicht verschlossen: Männer mit Kutten gingen ein und aus, denn die Mönche lebten nicht streng klausuriert wie die Nonnen, sondern nahmen wichtige Hofämter ein. Gisla wäre am liebsten auf einen der Mönche zugestürzt, hätte sich an ihn geklammert und ihn gebeten, sie zur königlichen Pfalz zu bringen. Doch als einer der Blicke sie traf, erhielt sie einen Vorgeschmack dessen, was sie von den meisten seinesgleichen zu erwarten hatte: eine Spur Verachtung, als ob sie Gesindel wäre, zugleich Gleichgültigkeit, als wäre er für diese Art von Menschen blind.
So ließ Gisla sich von Runa weiterziehen. Nach dem Händler hielten sie vergebens Ausschau. Er war einfach fortgegangen, ohne sich zu verabschieden, und obwohl sich dieser Mann oft schlechtlaunig und wortkarg erwiesen hatte und sie nicht einmal seinen Namen kannten, fühlte sich Gisla plötzlich verzagt. Sein Gesicht war ihr vertraut gewesen - im Gegensatz zu den vielen Menschen, die durch die engen Straßen und Gassen von Laon strömten, Mönche, Händler mit unterschiedlichen Waren und auch Handwerker - ortsansässige wie fahrende. So laut wie sie schrien, ja, brüllten, schienen sie im heftigen Streit miteinander zu liegen, und erst nach einer Weile erkannte Gisla, dass sie nicht stritten, sondern um Kunden warben und ihre Waren anpriesen.
Gisla glaubte, vor Angst zu vergehen, dann jedoch begann sie, die vielen Menschen als Schutz zu empfinden. In ihrer Mitte konnte man sich ganz kleinmachen und einer von so vielen sein, ein ungewohntes Gefühl nach den Tagen der Einsamkeit, aber auch ein angenehmes. Die vielen Leiber stanken und rempelten aneinander, aber sie wärmten auch.
»Wohin?«, fragte Runa ungeduldig.
Zum ersten Mal, seit sie durch das Stadttor gekommen war, überließ sie Gisla die Führung. Diese wollte nicht eingestehen, dass sie ihre Heimatstadt nicht kannte und nicht wusste, wohin sie sich wenden sollten. So ließ sie sich einfach von der Menschentraube mittreiben, und dass sich diese schließlich auflöste, deutete sie als Zeichen dafür, dass sie sich der königlichen Pfalz näherten. Anstelle von kleinen, schiefen und aus Holz gebauten Hütten standen dort mächtige Häuser aus Stein, und die Männer, die sie sahen, waren keine Mönche, Händler und Handwerker, sondern bewaffnet. Auf das große Stadttor folgte ein kleineres, und sie konnten es wie das erste schon ungefragt passieren. Erst als Gisla mit Runa im Hof stand, umgeben von Haupt- und Wirtschaftsgebäuden, den Thermen und der kleinen Kapelle, traf sie eine Stimme, doch diese Stimme machte das Gefühl, endlich zuhause zu sein, alsbald zunichte.
Ein Mann trat auf sie zu und bellte undeutlich etwas, was Gisla nicht richtig verstand. Hatte er »Haut ab von hier!« oder »Was wollt ihr?« gerufen?
Der Mann war ein Hüne. Gisla musste ihren Kopf in den Nacken legen, um ihn zu mustern. Runa war im Vergleich zu ihm nicht ganz so klein, doch einzuschüchtern schien er sie auch, denn ihre Hand fuhr instinktiv zu ihrem Messer. Gisla lag auf den Lippen, ihn zu bitten, sie sofort zum König zu bringen, aber sie beherrschte sich im letzten Augenblick und verlangte stattdessen, den Mansionarius zu sprechen.
Der Hüne machte einen Schritt auf sie zu, und deutete auf die Kapelle. »Almosen gibt es dort, aber nur am Mittwoch und am Freitag.«
Erst jetzt ging Gisla auf, dass sie nicht wusste, welcher Wochentag war und wie viele Tage seit dem Treffen von ihrem Vater und Rollo in Saint-Clair-sur-Epte überhaupt vergangen waren.
Sie überlegte zu lange, wie sie der Annahme widersprechen könnte, sie wären Bettlerinnen, und erweckte dadurch die Ungeduld des Hünen. Noch einen weiteren Schritt machte er auf sie zu, dann hatte er sie schon am Arm gepackt. Gisla schrie auf, und wenngleich sie rasch die Selbstbeherrschung wiederfand, bewog Runa die Panik in ihrer Stimme, ihr nicht länger die Führung zu überlassen. Offenbar befand sie auch, dass man mit Waffen mehr sagen konnte als mit Worten. Sie zog das Messer aus ihrem Gürtel, erhob es drohend und durchschnitt die Luft. Prompt ließ der Hüne Gisla los - oder stieß sie vielmehr zu Boden. Sie fiel auf
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