Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Augen einen Menschen getötet hatte - aber eine Fremde war sie nun nicht mehr.
Der Händler sah sie indessen ängstlich an. Als sie näher kamen, hob er eine Hacke - Runa griff gleich nach ihrem Messer.
»Nicht!«, rief Gisla und stellte sich hastig vor Runa.
Ihre Stimme überschlug sich fast, als sie ihm erklärte, wohin sie wollten, und anscheinend beruhigte ihn das, denn er ließ die Hacke sinken und antwortete.
Er selbst sei von Senlis nach Köln unterwegs, nicht auf der großen Straße - dort lauere zu viel Diebespack -, sondern auf Seitenwegen. So oder so würde er an Laon vorbeikommen. Sie sollten Abstand wahren und nicht wagen, ihm etwas zu stehlen, aber seinetwegen könnten sie ihm folgen.
Der Händler ging langsam, das Pferd ob der Last, die es zu tragen und zu ziehen hatte, ebenso. Auch Runa hatte alsbald eine Last zu tragen. Trotz des geringen Tempos war Gisla nach wenigen Schritten müde, und da sie diesmal keine Pause einlegen konnte, schleppte Runa sie kurzerhand auf ihrem Rücken. Der Händler drehte sich verwundert um und wirkte nicht länger ängstlich, sondern mitleidig.
Gegen Abend legten sie eine Rast ein, entfachten mit dem Feuerstein ein Lagerfeuer, und der Händler erhitzte in einem Krug ein rotes Gesöff, das bitter schmeckte. Wenn es tatsächlich Wein war, wie Gisla vermutete, dann musste er mit verdorbenen Reben gekeltert worden sein, aber wenn er auch nicht schmeckte, so wärmte er doch, und Gisla war dankbar, dass er ihnen nicht nur davon gab, sondern ihnen außerdem erlaubte, sich ihm zu nähern. Er fragte nicht, was sie nach Laon trieb, aber erzählte, was er von der Stadt wusste, und Gisla fügte das eine oder andere hinzu.
Runa lauschte aufmerksam, schien zwar viel, aber nicht alles zu verstehen. Als die Sprache darauf kam, dass Laon eine uneinnehmbare Stadt war, weil eine alte, riesige Römermauer sie schützte, wunderte sie sich sichtlich.
»Warum Römer? Leben nicht Franken in diesem Land?«, fragte sie.
Gisla wusste die Antwort selbst nicht genau, dachte sich jedoch, dass wohl, so wie im Nordmännerland früher Franken gelebt hatten, im Frankenland früher Römer gesiedelt hatten - beides Zeichen dafür, dass die Welt ein unsteter Ort war, in dem nichts Bestand hatte.
Sie versuchte, die riesige Stadtmauer zu beschreiben, aber es gab keine Worte, mit denen sie Runa auf deren erhebenden Anblick vorbereiten konnte. Schon von weitem war sie sichtbar, als sie drei Tage später die Stadt erreichten, und Runa rief fasziniert, dass sie noch nie dergleichen gesehen habe. Zwar gab es auch in Rouen Mauern, aber dort waren sie bei Nacht angekommen und im Morgengrauen geflohen - nach Laon hingegen kamen sie am helllichten Tag.
Tränen verschleierten Gislas Blick, als Runa sie von ihren Schultern gleiten ließ. Die letzten Schritte bis zur Stadtmauer machte sie allein.
»Wir sind da!«, schluchzte sie. »Wir sind da!«
Der Händler blickte sich nach den beiden jungen Frauen um. Eigentlich sprach er nur mit ihnen, wenn sie gerade rasteten, aber Gislas Schluchzen rührte ihn wohl. Er lächelte zum ersten Mal.
»Ja«, sagte er. »Dies ist Laon.«
Am liebsten hätte Gisla schon auf der Schwelle des Klosters Halt gemacht, das sich unterhalb der Römermauern befand, der Jungfrau Maria geweiht und von der heiligen Sadalberga gegründet. Sie war schon früher ein oder zwei Mal dort gewesen, um zu beten, doch selbst wenn sie nie zuvor die Pforte durchschritten hätte, war es doch ein vertrauter Ort gewesen: Schließlich war es ein Haus aus Stein, überdies ein sauberes Haus, und vor allem eines, in dem fromme Frauen lebten, die Gott verherrlichten. Obwohl das Tor nicht einladend offen stand, wurde der Drang übermächtig, zu klopfen und um Hilfe zu betteln, und Gisla nahm davon nur Abstand, weil sie ahnte, dass man die beiden verwahrlosten Frauen für Bettler gehalten, mit Almosen abgespeist und ihnen niemals Einlass gewährt hätte. So folgte sie Runa, die beherzt auf die Stadtmauern zuschritt, und auch der Händler nahm wie sie diesen Weg, um in Laon eine Rast einzulegen.
Als sie das Stadttor durchschritten, kamen sie am nächsten Kloster vorbei, das nicht weit von der Marienkathedrale und der bischöflichen Pfalz errichtet war.
»Diese Abtei ist dem heiligen Vincent geweiht«, rief sie aufgeregt, ungeachtet dessen, ob Runa sie verstand oder nicht.
Das Kloster selbst kannte Gisla nicht, aber in der Kathedrale hatte sie manchmal gebetet und an den Todestagen der Bischöfe, die dort
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