Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
mir so oft geholfen, ohne sie wäre ich längst tot. Ich habe ihr versprochen, dass sie ...«
Begga hob endlich ihren Kopf, doch nicht, um Gisla zu antworten, sondern um sie weiterzuziehen. Die Fackeln, die an den Wänden brannten, wurden spärlicher, die Räume niedriger. Nichts hatten sie mit dem großen Saal im Wohnhaus des Königs gemein, nichts mit der heimeligen Kemenate, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte.
»Wo ... wo sind wir?«
»Wir sorgen jetzt fürs Erste dafür, dass du etwas zu essen bekommst«, erklärte Begga, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Die Aussicht, ihren Hunger zu stillen, war verlockend. Essen, schlafen, sich waschen, frisch gekleidet zu werden ... das vertrieb alles andere ... vertrieb zumindest den Gedanken an ihre Mutter, den an Runa konnte es nicht ganz ausmerzen.
»Aber die Frau im Kerker ...«, setzte Gisla an.
»Darum kümmern wir uns später.«
»Sollte ... sollte ich nicht mit Vater sprechen?«
Ihre Mutter hatte sie zwar eindringlich gemahnt, dass er am allerwenigsten von ihrem Betrug erfahren dürfte, aber ihre Mutter war nicht hier, und die Lage hatte sich geändert: Aegidia war vom Tod bedroht, sie selbst von Taurin verfolgt, der offenbar den Betrug durchschaut hatte, und darum war das Bündnis zwischen Franken und Nordmännern in Gefahr. Das musste der König doch wissen!
Begga schüttelte heftig den Kopf.
»Das geht nicht«, erklärte sie entschlossen.
»Du meinst, wir sollten weiterhin ...«
»Dein Vater ist auch nicht hier«, unterbrach sie sie.
Gisla riss die Augen auf. Sie wusste, der Vater war häufig in seinem Reich unterwegs, aber sie hatte gedacht, dass er nach dem Vertrag zu Saint-Clair-sur-Epte eine Zeitlang am Hof residieren würde, um seine Ruhe zu finden. Eben noch war ihr warm gewesen, jetzt kroch Kälte ihr den Rücken hoch, und aus dem ersehnten Zuhause wurde ein fremder Ort ohne Vater und Mutter, mit einer Amme, die ihr nicht in die Augen sehen konnte.
Zumindest mit ihr sprechen konnte Begga, sehr schnell nun und sehr viel, fast erleichtert, etwas sagen zu können, das nichts mit Gislas Geschick zu tun hatte.
Der Vater sei in Lothringen, erklärte sie, wo der dortige Erbe Ludwig, »das Kind« genannt, weil er nicht nur jung, sondern schwach wie ein solches war, gestorben sei. Eine gute Gelegenheit sei dies, sich das Gebiet einzuverleiben, doch auch Konrad, der König des Ostfrankenreichs, bekunde sein Interesse daran, habe offenbar den Rhein überschritten und sich in Aix-la-Chapelle niedergelassen. Karl wolle ihn zwingen, Lothringen aufzugeben, und habe, um ihn nicht nur mit Worten, sondern auch mit Waffengewalt zu überzeugen, zu diesem Zweck sein eigenes Königreich verlassen.
In Lothringen gab es viele, die den König des Westfrankenreichs lieber als neuen Herrscher sahen als dessen östlichen Nachbarn.
Gisla musste an das Gespräch denken, in dem sie von den Heiratsplänen erfahren hatte, auch damals war schon der Name Lothringens gefallen, und Hagano hatte den notwendigen Friedensschluss mit den Nordmännern nicht zuletzt mit der Aussicht begründet, das Gebiet dem Westfrankenreich einzuverleiben. Damals hatte sie nicht darüber nachgedacht, erst jetzt begriff sie, dass König Karl sie, die älteste Tochter, nicht nur dem Frieden opferte, sondern neuem Land. Sie erinnerte sich an das Land, durch das sie die letzten Tage geirrt war - kaltes Land mit grauen Flüssen, eisigen Höhlen und wortkargen Händlern. War es wirklich so erstrebenswert, noch mehr solches Land zu bekommen? Oder war Lothringen ein ganz anderes Land, blühend und warm und licht?
»Du blutest ja!«, rief Begga plötzlich.
Tatsächlich sickerte neues Blut unter dem Streifen aus Wolfspelz hervor, mit dem Runa ihre Beinwunde verbunden hatte. Erstmals trafen sich ihre Blicke, und erstmals sah Gisla in Beggas Blick wieder die altvertraute Sorge um den Schützling aufflackern.
»Es ist nicht weiter schlimm«, erklärte sie rasch. »Aber was sollen wir denn nun tun?«
Begga zuckte hilflos die Schultern. »Hagano hat deinen Vater nicht nach Lothringen begleitet, obwohl er von dort stammt. Er ist hiergeblieben.«
Sie sprach den Namen voller Verachtung aus. Hagano, des Königs Günstling, wurde von vielen verachtet, aber von ihrer Mutter und Begga glühend gehasst. Schließlich war er es, der sich für ihre Heirat mit Rollo eingesetzt hatte.
»Er darf nicht wissen, dass ich in Laon bin«, rief Gisla entsetzt.
Begga senkte ihre Augen. »Das sehe ich auch so. Am besten
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