Tochter des Ratsherrn
sage ich!« Die Stimme kam von der anderen Seite der Trostbrücke. Weit genug entfernt, dass man das Gesicht des Mannes nicht erkennen konnte, doch nah genug, dass sich viele umdrehten, um denjenigen, der dort mit fester Stimme Befehle brüllte, in Augenschein zu nehmen.
Vater Everard schnappte nach Luft, war sein Werk doch schon fast vollbracht gewesen. Gab es tatsächlich doch noch jemanden, der es wagte, ihm zu widersprechen? »Wer bist du, Kerl? Zeig uns gefälligst dein Gesicht, und sage deutlich, was du willst«, wetterte er grimmig.
Der Mann näherte sich zielstrebig und sprach in einem schneidenden Ton: »Es erstaunt mich, dass Ihr meine Stimme nicht erkennt. Schließlich seid Ihr seit einiger Zeit mein Beichtvater.«
Everard kniff die Augen zusammen und beschirmte sie mit der flachen Hand. »Godeke von Holdenstede.«
»Ganz recht«, bejahte dieser atemlos. Nachdem die Frauen auch nach längerer Zeit nicht zum Millerntor gekommen waren, hatte Walther ihn zurückgeschickt, um nach ihnen zu sehen. Der Weg durch die dicht gedrängte Masse zur Brücke war kräftezehrend gewesen, doch er war keinen Moment zu früh gekommen. Bereits beim Anblick der überfüllten Trostbrücke war Godeke stutzig geworden und hatte sich des Gefühls nicht erwehren können, dass hier etwas nicht stimmte. Nun konnte er deutlich das dämonische Gesicht Vater Everards vor sich sehen. »Ich fordere, dass dieses Spektakel ein Ende hat. Wie könnt Ihr es wagen, Runa eine Hexe zu nennen? Sie ist eine gottesfürchtige Christin, und das wisst Ihr genau.«
»Pah, gar nichts weiß ich«, entgegnete der Priester boshaft. »Leider habt Ihr verpasst, welch unfehlbare Beweise ich bereits gegen Eure irregeleitete Schwester zutage gefördert habe.«
»Es gibt keine Beweise«, brüllte Godeke außer sich vor Zorn. »Ganz gleich, was Ihr mir zeigt, ich werde es entkräften können.«
»So? Dann erklärt mir, wie die einst blonde Haarsträhne dieses Weibes über Nacht so rot wie das Feuer der Hölle werden konnte?« Abermals hielt er die Haare in den Himmel, doch dieses Mal bekreuzigte sich niemand vor ihm.
Die Bürger Hamburgs waren wankelmütig, und es dürstete sie nach Unterhaltung. Sie wollten hören, was der Bruder einer Hexe zu sagen hatte, und waren bei überzeugenden Darlegungen ebenso bereit, auf seine Seite zu wechseln.
Godeke zeigte sich unbeeindruckt von der Haarsträhne. »Jedes Kind, das schon einmal gesehen hat, wie die Färber Garn rot einfärben, kann Euch sagen, wie man aus blonden Haaren rote macht. Glaubt Ihr wirklich, dass ich auf diesen faulen Zauber hereinfalle? Wahrscheinlich ist es nicht einmal das Haar meiner Schwester, sondern das irgendeiner Dirne.«
Die versteckte Anspielung in Godekes Worten war ungeheuerlich, doch sie zeigte auch Wirkung. Seine Selbstsicherheit bereitete den Bürgern Vergnügen, und außerdem hatte er recht; es war durchaus möglich, Haare zu färben.
Vater Everard entging nicht, dass die Überzeugung der Leute zu schwinden begann. Er durfte nicht zulassen, dass Godeke all seine Beweise zunichtemachte und damit auch seinen Sieg, weshalb er davon absah, ihm auch den Tiegel und die Katze zu zeigen. Jetzt konnte ihm nur noch ein Wunder helfen, und um dieses Wunder wollte er Gott bitten.
Wie zu Anfang seiner Rede breitete Everard seine Arme aus. Die ehrfürchtig geschlossenen Augen nach oben dem tiefblauen Himmel zugewandt sprach er laut und deutlich: »Herr, ich flehe Dich an, schicke uns ein Wunder, damit auch dieser Ungläubige davon überzeugt wird, dass sich eine Hexe mitten unter uns befindet. Du hast mir das Herz geöffnet, hast mich gesegnet mit dieser Erkenntnis; ich bitte Dich, schicke uns nun ein Zeichen Deines Wohlgefallens. Dieses Weib ist böse. Möge es auf dem Scheiterhaufen brennen dafür, dass es mit seiner Schlechtigkeit Dein Ansehen beleidigt hat!« Doch so inbrünstig der Geistliche auch flehte – nichts geschah. Langsam wurden die Hamburger ungeduldig und begannen zu tuscheln.
Gerade als Godeke bemerken wollte, dass Gott offensichtlich nicht gewillt war, ihm ein Zeichen zu senden, geschah das Unfassbare. Zunächst vernahmen es nur die, die in unmittelbarer Nähe standen. Vor Vater Everards Rednerkiste kam ein Tumult auf.
Die Hand an der Kehle, wurde die Magd Johanna von kräftigen Armen nach oben zu dem Geistlichen geschoben. Sie röchelte und räusperte sich, dann schluckte sie schwer, öffnete den Mund und begann zu sprechen. »Ich … ich kann … ich kann
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