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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Tan
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sprechen!«
    Es waren die ersten Worte, die man aus dem Mund der stummen Magd Johanna vernahm.
    Auf dem gesamten Platz war es plötzlich so still, dass sogar das Gezwitscher der Vögel und das Geplätscher des Wassers in der nahegelegenen Niedermühle zu vernehmen waren.
    Johannes zitterte vor Aufregung am ganzen Leib und bemühte sich nach Kräften, ein glaubhaft fassungsloses Gesicht zu machen. An den Blicken der Umstehenden erkannte er, dass er seine Sache gut machte. Was für eine einmalige Gelegenheit, seinen lang geschmiedeten Plan zu verwirklichen! Das Schicksal hatte ihm vollkommen unerwartet in die Hände gespielt, und Johannes hatte es verstanden, diesen Vorteil geschickt für sich zu nutzen.
    Noch immer schwiegen die Umstehenden, fassungslos ob des unglaublichen Schauspiels, dessen sie ansichtig geworden waren. Vater Everard und Godeke zeigten sich nicht minder verblüfft als alle anderen.
    Johannes selbst stand nach wie vor unbewegt da, eine Hand an seinem Halse. Seine Aufregung stieg weiter an. Je länger der Moment des Schweigens andauerte, desto unsicherer wurde er, denn er war sich der Schwachstelle seines Plans nur allzu gut bewusst: Sosehr er vom Äußeren und von seinen Bewegungen her mittlerweile einer Frau glich, so war seine Stimme doch die eines jungen Mannes. Mit aller Inbrunst hoffte er, die Hamburger würden sich das damit erklären, dass die Magd Johanna vermeintlich ihr Lebtag nicht gesprochen hatte, und zu seiner großen Erleichterung schienen sie genau das zu tun.
    »Es ist ein Wunder!«, schrie eine alte Frau und sank ehrfürchtig auf die Knie. Viele taten es ihr gleich, manche weinten sogar und reckten ihre Hände gen Himmel, um Gott für dieses Zeichen zu danken. Runas Schicksal schien endgültig besiegelt.
    »Gott hat eine Stumme geheilt!«
    »Er hat uns ein Zeichen gesandt!«
    »Es ist ein Wunder!«
    Vater Everard verneigte sich übertrieben demütig. In seinem Gesicht spiegelte sich ernsthaftes Erstaunen. »Danke, Herr, dass du meine Gebete erhört hast.« Dann aber veränderte sich seine unterwürfige Stimme schlagartig. »Ergreift die Hexe!«, schrie er den Männern entgegen, die sich noch immer zögerlich zeigten und nach wie vor einen Kreis um die vier Frauen mit den beiden Kindern bildeten. »Worauf wartet ihr denn noch, ihr Feiglinge? Soll Gott etwa erst Feuer und Blitze regnen lassen, bis ihr an sein Wunder glaubt, ihr ungläubigen Narren?«
    Jener barschen Aufforderung folgend stürzte tatsächlich der Erste voran. Es war ein junger Bursche, der mit dieser Tat offenbar seine Männlichkeit beweisen wollte, doch direkt vor Runa blieb er abrupt stehen. Ihm schien nicht klar zu sein, wie er eine Hexe ergreifen sollte, ohne dass sie ihm ein Leid zufügte. Getrieben von Unwissenheit und Angst umkreiste er Runa lauernd, bis er schließlich einfach ausholte und ihr die Faust ins Gesicht schlug.
    Runa von Sandstedt sackte bewusstlos zusammen.
    Großer Jubel drang aus den Kehlen der Umstehenden. Der Hexe war der Garaus gemacht worden! Gleich darauf stürzten weitere Männer auf die Ohnmächtige zu, hoben das teuflische Weib hoch über ihre Köpfe und trugen es davon.

TEIL III
    Die Riepenburg und Eppendorf
Sommer und Herbst, im Jahre des Herrn 1291

1
    Albert saß am Ende einer reich gedeckten Tafel. Er war allein am Tisch und sah verwundert zu, wie zwei Mägde gemeinsam mit Alusch eine Speise nach der anderen auftrugen. Der Saal, in dem er sich befand, wirkte schlicht mit seiner hohen Decke, groben Wänden und schmalen Luken, durch die kaum Licht hereindrang. Der Boden war bedeckt mit platt getretenem Stroh, das offensichtlich seine frischesten Tage schon hinter sich hatte. Gegenüber der großen getäfelten Doppeltür befand sich ein Kamin, dessen Geruch nach erkalteter Asche die Essensdüfte unangenehm überdeckte.
    Albert ließ den Blick über den üppig beladenen Holztisch schweifen. Die Speisen darauf hätten mit Sicherheit die Mägen von Königen zufriedenstellen können. Nach Wochen der Gefangenschaft im Verlies und Tagen des Dahinsiechens in seiner kargen Kammer kam ihm das Bild vor seinen Augen fast unwirklich vor.
    Ein ihm bislang unbekannter Diener hatte ihn gerade eben erst aus seiner Kammer geleitet und wortlos in den Saal der Burg gebracht. Albert war ihm schon deshalb gefolgt, um endlich der drückenden Eintönigkeit zu entkommen. Nachdem er Eccard Ribe vor einigen Tagen mit seiner Unfreundlichkeit aus seinem Krankenzimmer verscheucht hatte, war der Ritter nicht

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