Tochter des Ratsherrn
Stadt erst erreichen, wenn die Stadttore bereits geschlossen sind. Da kannst du ebenso gut über Nacht hierbleiben und in aller Früh losfahren.«
Die vermeintliche Ruhe der einstigen Ratsherrnfrau brachte den aufgebrachten Godeke schier zum Verzweifeln. »Das kann doch nicht dein Ernst sein, Hildegard!«, warf er verständnislos ein. »Ich soll mich von einem Regenschauer davon abhalten lassen, meiner hochschwangeren Schwester beizustehen, die gerade in einem Verlies darbt? Wer weiß, was sie zwischenzeitlich mit ihr anstellen? Hast du vergessen, dass man sie für eine Hexe hält …?«
»Beruhige dich«, versuchte Hildegard ihn zu beschwichtigen. »Walther ist in der Stadt, und außerdem wird ihr die nächsten Tage sowieso nichts geschehen. Du weißt ebenso gut wie ich, dass Schwangere nicht gefoltert werden.«
Bei dem Wort Folter zog Ragnhild hörbar die Luft ein und wandte den Blick erschrocken ab. Allein der Gedanke an das, was Runa gerade durchstehen musste, brachte sie schier um den Verstand.
Godeke fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Natürlich hatte Hildegard recht. Solange Runa ein Kind in sich trug, war sie in Sicherheit, doch sie würde nicht ewig schwanger sein. Ganz im Gegenteil. Das Ungeborene würde schon sehr bald zur Welt kommen, und dann gäbe es keine Gnade mehr für seine Schwester. Er hoffte inständig, sie würde nicht ausgerechnet in dieser Nacht niederkommen. »Gut, ich bleibe bis zum Morgengrauen. Wollen wir hoffen, dass Walther bis dahin schon etwas erreichen konnte.«
Nachdem sie alle mindestens drei große Becher des starken Weins getrunken hatten, legte sich ein bedrückendes Schweigen über das Haus. Jeder versuchte für sich mit den schrecklichen Erlebnissen des Tages umzugehen.
Während die einen stumm am Feuer saßen, suchten die anderen Kraft im Gebet.
Ragnhild jedoch hielt es nicht mehr länger im Haus aus. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, und so ging sie hinaus vor die Tür. Sofort löste das Rauschen der windgepeitschten Bäume die bedrückende Stille des Hauses ab. Ihr Kleid wurde von einer rauen Windböe erfasst, die es aufflattern ließ. Fröstelnd schlang Ragnhild die Arme um sich, dennoch zögerte sie keinen einzigen Moment. Entschlossenen Schrittes setzte sie sich in Bewegung. Ihr Weg führte sie über den ordentlich geführten Hof an den Ställen und den knorrigen Apfelbäumen vorbei; sie wollte weit weg sein, wollte all den erdrückenden Gedanken entfliehen. Es kümmerte sie nicht, dass das Wetter bald umschlagen würde. Ihre Seele dürstete es geradezu nach Einsamkeit.
Außerhalb der schützenden Häuserwände, die den Hof umrahmten, war der Wind noch peitschender, und der Himmel schien noch wilder. Schnell zogen die hellen und dunklen Wolken über Ragnhild hinweg und vermischten sich mehr und mehr zu lang gezogenen Wirbeln. Hier und da schaute noch ein bisschen Blau hindurch, doch stetig anrückende Wolkenwände kämpften beharrlich dagegen an. Die untergehende Sonne gab sich mehr und mehr dem bleiernen Grau geschlagen, und das warme orangefarbene Abendlicht wich rasch einer kalten Düsternis. Es war unverkennbar, dass der Regen kurz bevorstand, die Luft roch bereits danach. Doch Ragnhild kehrte nicht um.
Sie lief weiter einen kleinen Pfad entlang, bis der Hof gänzlich hinter ihr lag. Immer schneller und schneller trugen sie ihre Füße, und schließlich fing sie an zu rennen. Ragnhild hatte kein Ziel, sie wollte bloß laufen, und zwar so lange, bis der Schmerz in ihrem Herzen von dem Schmerz in ihren Beinen überdeckt wurde. Der Pfad führte sie vorbei an bestellten Feldern und kleinen Waldstücken. Immer wieder stoben Hasen, Vögel und Rehe vor ihr davon. Ragnhild rannte weiter und weiter. Einen kleinen Hügel hinauf und wieder hinab. Sie schlug tief hängende Äste beiseite, die ihr den Weg versperrten, und setzte immer Fuß vor Fuß, bis sie am Ende des Pfades schließlich auf eine weite, von großen Bäumen gesäumte Wiese kam. Dort blieb sie stehen. Sie hatte erreicht, was sie wollte. Ihr Brustkorb bebte, und ihre Beine schmerzten. Schwer atmend ließ sie den Blick schweifen.
Hier auf dem Land war man dem Wetter anders ausgeliefert als in der Stadt. Der ohnehin weite Himmel kam Ragnhild an diesem Ort so unendlich vor, dass sie sich winzig klein und unbedeutend fühlte. Hatte es eben noch vereinzelnd helle Flecken am Firmament gegeben, so waren sie nun alle in der aufkommenden Dunkelheit verschwunden. Dräuend türmten sich die regenschweren
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