Tochter des Ratsherrn
Sturmwolken über ihr auf und formten immer neue unheilvolle Gebilde. In ihren Ohren toste der Wind, der alles um sie herum tanzen ließ und beharrlich an ihrem Kleid zerrte. Dicke Äste ächzten und knarrten und verteilten ihr Laub in der Luft. Die langen Gräser der Wiese wurden in großen Wellen hin und her gepeitscht. Wie lange schon war es her, dass sie das Pfeifen des Windes so laut vernommen hatte? Ragnhild wusste nur, es war eine Ewigkeit.
Mit langsamen Schritten lief sie auf die Wiese zu und strich dabei mit den Handflächen über die Spitzen des umherwirbelnden Grases. Das Gesicht gen Himmel gewandt spürte sie schon bald die ersten kleinen Tropfen. Sie waren ihr so willkommen wie nie zuvor. Einem grellen Blitzstrahl folgte ein lang anhaltendes, brüllendes Donnern, das geradezu erlösend auf Ragnhild wirkte. Im selben Augenblick zuckten weitere Blitze durch den Himmel und erhellten immer wieder das unbekannte Innere der schwarzen Wolken.
Ragnhild empfand keinerlei Angst. Jedes Gefühl war bei ihrem wilden Lauf von ihr abgefallen. Wovor sollte sie sich auch jetzt noch fürchten, wo das Schlimmste, was einer Mutter passieren konnte, längst passiert war. Nein, Ragnhild war frei von jeder Furcht. Mit geschlossenen Augen stand sie einfach nur da und spürte, wie der Himmel begann, mit ihr zu weinen. Die spitzen Tropfen verwandelten sich mit einem Schlag in einen gewaltigen Regenguss, welcher das Rauschen der tanzenden Eichen um sie herum noch übertönte.
Einer inneren Eingebung folgend nahm Ragnhild ihre Haube vom Kopf und warf sie achtlos ins Gras. Sie wollte ihn spüren, den Regen. Wollte sich reinwaschen lassen von all der Last. Es dauerte nicht lange, da war ihr langes graublondes Haar triefend nass. Ragnhild hatte kaum noch gewusst, wie es war, den Regen auf dem unbedeckten Kopf zu spüren. Ein Kind war sie gewesen, seither band sie die Hochzeit an die Haube. Doch hier auf der Wiese gab es keine Sitte und keine Pflicht, die sie dazu zwangen, die lästige Kopfbedeckung zu tragen. Hier gab es nur sie und den Regen.
Irgendwann ballte sie die Fäuste und schrie aus Leibeskräften, übertönte das Tosen des Sturms und schreckte Vögel auf, die in Scharen aus den Bäumen aufflatterten.
Das Schreien befreite sie von allem, was der Anstand seit Jahren in ihr gefangen hielt. Ragnhild verfluchte all die Männer, welche ihr von jeher hatten Schaden wollen. Sie dachte an diejenigen, die sie wegen ihrer dänischen Herkunft gehasst hatten, an all jene, die sich hinter der Kirche und ihrem Glauben versteckten, und vor allem verwünschte sie den einen Mann, der ihr Kind heute so leichtfertig beschuldigt hatte, eine Hexe zu sein. Und als sie damit fertig war, verfluchte sie Gott selbst.
Nie wieder würde sie ein Gotteshaus betreten, so schwor sie, sollte er Runa nicht verschonen. Ragnhild reckte die Fäuste gen Himmel und forderte den Schöpfer des Himmels und der Erde heraus. Sollte er ruhig Blitze schicken, auf denen sie für ihre gotteslästerlichen Worte zur Hölle fahren konnte – dort würde es nie und nimmer schlimmer sein als hier.
Erst als ihre Stimme versagte und sie keine Tränen mehr hatte, fiel sie erschöpft ins Gras. Sie drehte sich auf den Rücken und starrte unbewegt nach oben in die geöffneten Schleusen des Himmels. Kleine Rinnsale liefen von ihrem Leib und versickerten im Boden. Ragnhild war vollkommen leer – doch sie war ruhig.
Erst Stunden später machte sie sich auf den Weg zurück zum Hof. Dort wurde bereits fieberhaft nach ihr gesucht. Die drängenden Fragen, wo um alles in der Welt sie gewesen sei und ob es ihr gut gehe, beantwortete sie nicht. Sie wollte nicht reden, sich nicht erklären oder sich entschuldigen. Alles, was sie wollte, war, sich diese innere Ruhe, die sich ihrer dort auf der Wiese bemächtigt hatte, wenigstens für eine Nacht zu bewahren. Ragnhild hatte eine Entscheidung für ihr Leben getroffen, die sie ihrer Familie mitteilen wollte – doch nicht mehr heute.
Auf eine traumlose Nacht folgte ein bitterkalter Morgen. Die Frauen standen um den Pferdewagen versammelt auf dem Hof, der noch im dämmerigen Licht des Morgengrauens lag.
»Meinst du wirklich, es wird gehen, Godeke?«, fragte Margareta mit einem zweifelnden Blick gen Himmel.
»Es muss einfach gehen, Schwester. Sei unbesorgt, das Wetter hält sich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Hamburg erreichen werde, bevor der nächste heftige Regen kommt. Doch wenn ich noch länger warte, wird Walther sich fragen,
Weitere Kostenlose Bücher