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Tochter des Ratsherrn

Tochter des Ratsherrn

Titel: Tochter des Ratsherrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Tan
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Gesicht der früheren Ratsherrnfrau ernst. Sie raffte ihre Röcke, ließ das Tuch, mit dem sie sich gerade die Hände getrocknet hatte, achtlos fallen und rannte dem Wagen entgegen. »Was ist passiert?«, fragte sie atemlos und ohne jeden Gruß.
    Die Frauen fielen sich in die Arme und ließen ihren Tränen freien Lauf. Einzig Ragnhild bewahrte noch ausreichend Fassung, um ihrer Freundin erklären zu können, was geschehen war. »O Hildegard, sie haben Runa.«
    »Wer hat Runa? Wo ist sie?« Die Ratsherrnfrau rüttelte Ragnhild, die sichtlich um Worte rang, sanft an den Schultern.
    »Wir wollten die Stadt durch das westliche Tor verlassen, wo bereits ein Pferdewagen auf uns wartete. Godeke und Walther gingen voran. Etwas später sollten wir Frauen mit Thymmo und Freyja nachkommen. Das Fest zu Ehren des neuen Krans schien uns günstig zu sein, um unbemerkt aus der Stadt zu fliehen, doch es waren so viele Menschen unterwegs, dass wir bei der Trostbrücke in der Menge stecken blieben. Großer Gott, Hildegard, es ging alles so schnell! Plötzlich hörten wir, wie man Runa anklagte, eine Hexe zu sein. Wir wollten fliehen, aber man entdeckte uns, und dann trat einer der Männer aus der Menge. Er schlug Runa nieder, und man schleppte sie fort. Gott allein weiß, wo mein armes Kind nun ist.« Nach dieser Erklärung brach auch Ragnhild in Tränen aus und flüchtete sich hilflos in die Arme ihrer einstigen Nachbarin.
    Diese richtete ihre schreckgeweiteten Augen auf Godeke. »Hilf mir, sie hineinzubringen.«
    Nur Augenblicke später saßen sie alle um einen groben Holztisch, der in der Mitte des größten Raums im Wohnhaus stand. Wie immer bewahrte Hildegard auch jetzt Haltung. Wenngleich man ihr deutlich ansehen konnte, wie fassungslos sie über die jüngsten Ereignisse war, klang ihre Stimme kraftvoll wie eh und je. »Marie, bring uns Wein. Aber den starken«, sagte sie zu einer ihrer Mägde, die sogleich in einer Kammer neben der großen Feuerstelle verschwand.
    Dann richtete sie das Wort wieder an Godeke. »Wo ist Walther? Ist er bei Runa?«
    »Wir wissen es nicht genau. Nachdem wir den Pferdewagen erreicht hatten, sagte der Bauer, der ihn uns geliehen hatte, Walther sei zurück in Richtung Stadt gelaufen. Wahrscheinlich wollte er uns holen kommen, doch wir haben ihn nirgends gesehen und konnten auch nicht länger auf ihn warten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Meute auch auf uns gestürzt hätte, und so sind wir ohne ihn losgefahren.«
    Bei diesen Worten traten allen die Ereignisse des Tages wieder lebhaft vor Augen. Es stimmte, was Godeke sagte: Sie waren nur knapp dem eigenen Tode entronnen. Wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe hatten sich die Hamburger auf Runa gestürzt und die vermeintliche Hexe jubelnd und johlend ihrem ungewissen Schicksal entgegengetragen. Godeke war nichts anderes übrig geblieben, als die drei Frauen, Freyja und Thymmo so schnell wie möglich von diesem Ort des Schreckens fortzubringen. Unter größter Anstrengung hatte er sich durch die Menge gekämpft und sie gerade noch rechtzeitig erreicht, um zu verhindern, dass die Frauen in ihrer blinden Verzweiflung hinter Runa herliefen. Noch immer fragte er sich, was er nur getan hätte, wenn es ihm nicht gelungen wäre, seiner Mutter klarzumachen, dass sie ohne Runa fliehen mussten, um ihr eigenes Leben und das der Kinder zu retten.
    Hildegard war sichtlich erschrocken. Stocksteif saß sie da und hatte die Hände so fest gefaltet, dass die Knöchel bereits weiß hervortraten. »Was hast du nun vor?«, fragte sie Godeke schließlich und griff zum Weinkrug, um ihren Gästen die Becher nachzufüllen.
    »Ich werde noch heute nach Hamburg zurückkehren. Ich muss nach Ava und Oda sehen. Sie sind im Schifkneth-Haus auf der Grimm-Insel bei Avas und Thiderichs Kindern geblieben. Sicherlich droht ihnen dort keine Gefahr, schließlich sind sie keine Abkömmlinge der von Holdenstedes, doch ich will mich selbst davon überzeugen. Danach werde ich Walther aufsuchen. Gewiss hat man Runa ins Verlies gebracht, bis sie vors Vogtgericht kommt. Vielleicht finden Walther und ich ja eine Möglichkeit, das zu verhindern, auch wenn ich bislang keine Ahnung habe, wie.«
    »Du kannst heute nicht mehr zurück, Godeke. Es wird bald einen Sturm geben, und dann wird dein schwerer Wagen im Schlamm stecken bleiben.«
    »Und wenn schon, dann laufe ich eben nach Hamburg«, gab Godeke entschlossen zurück.
    Hildegard schüttelte den Kopf. »Das ist doch Unsinn. Du würdest die

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