Tochter des Ratsherrn
wo ich bleibe. Runa braucht uns beide.« Während sie redeten, befestigte Godeke sein Messer am Bein und nahm die Zügel auf.
»Soll ich nicht doch besser mit dir kommen, mein Sohn?«, fragte Ragnhild, obwohl sie die Antwort Godekes bereits kannte.
»Nein, Mutter, das wäre zu gefährlich. Niemand weiß, dass ihr hier seid. Hier auf dem Land bei Hildegard seid ihr sicher. Ich kann mich nicht um Runa kümmern, wenn ich mich gleichzeitig um dich sorgen muss.«
Ragnhild wusste, dass er recht hatte. Es gab nichts, was sie hätte tun können, um ihre Tochter zu retten. Im Gegenteil: Sie war die Mutter der vermeintlichen Hexe. Wahrscheinlich lauerten die Städter nur darauf, dass sich eine weitere von Holdenstede in Hamburg blicken ließ. Wenn sie jemals einen gewissen Einfluss besessen hatte, dann war dieser mit Alberts Einlager erloschen. Sie konnte nichts tun als abwarten. Runas Schicksal lag nun in Godekes und Walthers Hand. »Pass auf dich auf, mein Sohn, und bring mir deine Schwester zurück.« Dann drehte sie sich abrupt um und lief ins Haus. Sie konnte es nicht ertragen, ihren Sohn ins Ungewisse fahren zu sehen, nachdem sie erst gestern ihre Tochter und zuvor ihren Mann verloren hatte. Die Geräusche des davonrollenden Pferdewagens brannten sich in ihren Kopf. Würde es das Letzte sein, was sie mit Godeke verband? Oder würde er wiederkommen, mit Walther, mit Runa und vielleicht sogar mit Albert? Ragnhild wusste es nicht. Doch eine Sache wusste sie ganz bestimmt: Sie wollte nie wieder nach Hamburg zurückkehren, um dort zu leben. Keinen Fuß würde sie mehr in das verdammte Kaufmannshaus setzen, in dem ihr so viel Schmerzliches widerfahren war. Nichts daraus würde sie vermissen, kein noch so weiches Bett, kein noch so üppiges Essen, kein noch so wertvolles Kleid. Wenn sie nur ihre Lieben wiederhätte, würde sie mit Freuden ihr Lebtag in Armut verbringen.
2
»Zur Seite, Junge«, fuhr Willekin Aios den jungen Diener Jacob unwirsch an und schob ihn grob aus dem Weg. Drei Schritte weiter stand der Bürgermeister auch schon vor Johann Schinkels Schreibtisch in dessen Domkurie und sagte mit einem schadenfrohen Unterton in der Stimme: »Eure Abneigung gegen Stadtfeste hat Euch dieses Mal tatsächlich etwas Unglaubliches verpassen lassen.«
Der Ratsnotar blickte zuerst in das aufgeregte Gesicht des Bürgermeisters, dann weiter zu Jacob, dem ob der unsanften Behandlung schon wieder das Wasser in die Augen trat. »Geh und schließe die Tür von außen«, befahl er ihm barsch und zeigte mit dem Kinn auf die Tür. Sosehr der Diener ihn tagtäglich auch aufregte, er hatte es nach wie vor nicht übers Herz gebracht, den Jungen fortzuschicken. Doch seine weinerliche Art ließ Johann Schinkel immer unfreundlicher und ungeduldiger mit ihm werden.
Während Jacob leise schluchzend die Tür von außen schloss, bot der Ratsnotar dem Bürgermeister seinen üblichen Platz an. »Nun, was genau habe ich denn verpasst?« Auch wenn er sich nicht anmerken lassen wollte, dass er sich bei seiner Arbeit gestört fühlte, klang seine Stimme nicht wirklich interessiert.
Der Angesprochene hingegen schüttelte ungläubig den Kopf und sagte mit offensichtlichem Unverständnis: »Man könnte wirklich meinen, dass hier in Eurer Kurie die Zeit anders läuft. Bekommt Ihr denn gar nicht mit, was unten auf der Straße passiert?«
Johann Schinkel musste grinsen. »Nein, manchmal nicht, da muss ich Euch wohl recht geben, Bürgermeister. Aber dieser Umstand kann recht nützlich sein, wenn man in Ruhe arbeiten will.«
Willekin Aios hatte den Wink sehr wohl verstanden, doch die Männer waren einander zu vertraut, um wegen derlei Spitzen beleidigt zu sein. »Bei allen Heiligen, nun legt schon Eure Schreibfeder weg, und hört mir zu!«
Johann Schinkel tat, was der Bürgermeister wünschte, faltete die Hände und versuchte ein besonders wissbegieriges Gesicht zu machen, das allerdings eher zur Grimasse geriet.
»Die Dame Runa von Sandstedt wurde als Hexe enttarnt und festgenommen.«
»Was?« Johann Schinkel sprang so heftig von seinem Sessel hoch, dass der Bürgermeister erschrocken zusammenfuhr. »Das ist einfach unmöglich. Wer behauptete denn so was?«, fragte der Ratsnotar nun mit einer Heftigkeit, die sein Gegenüber verwirrte.
»Allmächtiger, was seid Ihr so erbost? Sie ist doch nicht die erste Hexe, die wir in der Stadt festgenommen haben.«
»Sie ist keine Hexe!«, spie Johann Schinkel ihm entgegen und wurde sich gleich darauf bewusst,
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