Tochter des Ratsherrn
sechsunddreißig Lenze und ist somit der Älteste. Ich finde, man kann ihn leicht an seinem Blick erkennen. Schau nur die trüben Augen! Man sagt, dass er fast nichts mehr sehen kann. Hinter vorgehaltener Hand heißt er deshalb auch Gerhard der Blinde. Der in der Mitte ist Adolf VI. Er ist zwei Jahre jünger. Ich merke mir sein Gesicht an seinen dichten, dunklen Augenbrauen. Ganz links geht Heinrich I. Er ist mit zweiunddreißig Jahren der Jüngste unter ihnen und, wie ich finde, auch der Hübscheste.«
Margareta konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. »Du hast recht, Mutter. Er ist wahrhaft ansehnlich. Und wer sind die zwei Männer hinter den Grafensöhnen?«
»Das sind die Söhne Johanns I., des Bruders des verstorbenen Gerhards I. Links geht Johann II. von Kiel und daneben sein etwas älterer Bruder Adolf V. von Segeberg. Du musst wissen, dass beide nicht besonders gut auf die Grafensöhne zu sprechen sind. Viele Jahre hatte Graf Gerhard I. als ihr Vormund die Besitztümer seiner damals noch unmündigen Neffen verwaltet. Als beide dann dem Kindesalter entwachsen waren, wollte ihr Oheim das Erbe seiner Neffen nicht mehr zurückgeben. Doch nach der Hochzeit Adolfs V. mit Euphemia, der Tochter des Herzogs von Pommern, war Gerhard I. dann gezwungen, das berechtigte Erbe herauszugeben. Adolf V. entschied sich daraufhin für das Gebiet Segeberg mit der mächtigen Festung Siegesburg, und sein Bruder Johann II. erhielt die Kieler Stammlande. Doch damit hatten sie ihren Oheim noch lange nicht besiegt. Gerhard I. behielt die Gebiete, welche an die Grafschaft Itzehoe grenzten, einfach für sich. Bis zum Tode Gerhards I. hat es ständig Streit zwischen ihm und seinen Neffen gegeben, und nun wird sich dieser Streit mit seinen Söhnen sehr wahrscheinlich fortsetzen.«
Als Ragnhild zu ihrer Stieftochter hinübersah, konnte sie deutlich erkennen, dass sie mit dem eben Erzählten überfordert war. Ihr selbst wäre es in Margaretas Alter wohl ähnlich gegangen. Erst mit den Jahren hatte sie angefangen, sich für die Machenschaften der Grafen zu interessieren. Zu ihrem Glück sah ihr Gemahl keinen Grund, sein Weib nicht in derlei Gedanken mit einzubeziehen. Unzählige Abende hatten sie beide schon damit zugebracht, allein in ihrer Kammer über die Geschehnisse im Rathaus zu reden. Ragnhild fragte sich, ob Margaretas Zukünftiger, Hereward von Rokesberghe, wohl ähnlich großherzig mit seiner Frau umgehen würde. Sie wünschte es ihrer Stieftochter von ganzem Herzen. Um die Verwirrung, die sie gestiftet hatte, etwas abzuschwächen, fügte sie hinzu: »Wir werden sehen, was geschieht, Liebes. Erst wenn die Nachfolge geregelt ist, wissen wir mehr.«
Als der Trauerzug endlich den mächtigen, westlich gelegenen Turm des Mariendoms erreichte, schlossen auch Runa und Ava auf, die bisweilen weiter hinten gegangen waren. Gemeinsam traten sie durch das kunstvoll mit steinernen Bögen verzierte Eingangsportal ins Innere des Doms.
Dort verschlug es allen Gläubigen gleichsam die Sprache: Die grauen Gemäuer erstrahlten im Licht unzähliger Kerzen. Noch nie zuvor hatten die Hamburger das Langhaus in einer solchen Pracht gesehen. Immer mehr Bürger drängten hinein, sodass die Kaufmannsfamilien am Anfang des Trauerzuges weit ins Innere geschoben wurden, vorbei an den mächtigen Kreuzpfeilern der einzelnen Joche, die das hohe Kreuzgewölbe trugen, und den spitz zulaufenden Dreifenstergruppen Richtung Norden und Süden. Es duftete betörend nach Weihrauch, und vom östlichen Ende des Doms scholl laut der Gesang des Mönchschors zu ihnen herüber. Allein die hölzernen Gerüste, die überall im Dom herumstanden, da sich das Innere der einstigen Emporenbasilika noch immer im Umbau zu einer dreischiffigen Hallenkirche befand, störten das anmutige Bild des glanzvollen Spektakels.
Als es schien, dass kein Einziger mehr hineinpasste, begann die Messe. In überschwänglichen Reden wurden die Taten Gerhards I. gelobt. Immer wieder folgten Gesänge auf Gebete und Gebete auf Gesänge. Nach einer nicht enden wollenden Predigt des Domdekans wurde der prunkvolle Sarg des Grafen im Boden des Mariendoms neben dem Vater des Verstorbenen, Adolf IV., versenkt. Um das ausgehobene Loch herum lagen immergrüne Zweige, da es um diese Jahreszeit keine Blumen gab.
Erst als die Lippen der vermeintlich Trauernden blau vor Kälte waren, entließ Gottschalk von Travemünde die Gemeinde mit einem letzten Segensspruch. Kurz darauf strömten die Trauergäste wieder
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