Tochter des Ratsherrn
nach draußen, froh, die lange Messe hinter sich gebracht zu haben.
Runa war das Stehen besonders schwergefallen. Auch wenn ihr Kind noch lange nicht zur Welt kommen würde, taten ihr in letzter Zeit häufig die Beine und der Rücken weh. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stützte sie ihre Arme in die Seiten und streckte sich. Dann stöhnte sie ohne jede weibliche Zurückhaltung: »Wenn die Messe auch nur einen Moment länger gedauert hätte, wäre ich entweder vor Schwäche umgekippt oder am Weihrauch erstickt.«
»Runa, so kannst du doch nicht reden«, tadelte Ragnhild ihre Tochter. »Komm, hake dich bei mir unter. Gleich kannst du dich ausruhen.«
Die Frauen kämpften sich durch die Menge, die sich mehr und mehr verlor, je weiter sie sich vom Dom wegbewegten. Ihre Männer standen bereits um den Brunnen auf dem freien Platz herum und unterhielten sich angeregt.
Obwohl soeben ein Mensch zu Grabe getragen worden war, verhielten sich alle wie immer. Hier und da wurde ein Gruß ausgetauscht oder eine kurze Unterhaltung mit einem Nachbarn geführt, andere huschten schnell zurück in ihre Häuser, um sich aufzuwärmen. Dombesuche boten allgemein eine gute Gelegenheit, mit denen zu reden, die man nicht so häufig sah, weil sie einem anderen Kirchspiel angehörten und deshalb der Messe in dem entsprechenden Gotteshaus beizuwohnen hatten, oder auch jene zu treffen, die gar nicht mehr innerhalb der Stadtmauern lebten.
»Sieh mal, Runa. Da ist Hildegard von Horborg!«, rief Margareta ihrer Stiefschwester plötzlich zu.
Sofort glitten Runas Augen suchend über die Menge. Es dauerte nicht lange, bis sie die Freundin ihrer Mutter entdeckte. Wie immer war Hildegard von Kopf bis Fuß in edelste Stoffe gehüllt. Im gleichen Moment erblickte auch die ehemalige Ratsherrngemahlin die Frauen und kam mit einem breiten Lächeln zu ihnen herüber.
»Meine Lieben, lasst euch anschauen. Wir haben uns schon wieder viel zu lange nicht gesehen.« Herzlich umarmte sie jede Einzelne von ihnen. »Runa, was ist mir da zu Ohren gekommen? Stimmt es, dass du guter Hoffnung bist?«
»Es ist mir zwar unerklärlich, wie du das schon wieder herausbekommen hast, obwohl du nicht in der Stadt wohnst, aber ja, es stimmt.« Runa wunderte sich nicht wirklich darüber, dass die ehemalige Nachbarin so gut Bescheid wusste. Es war bekannt, dass sie noch immer über gute Verbindungen in der Stadt verfügte.
Hildegard war bereits eine Frau gestandenen Alters, doch ihre Geschichte war so eng mit der Familie von Holdenstede verbunden, dass der Altersunterschied für die Frauen nicht weiter wichtig war. Nachdem ihr Mann bei dem großen Brand ums Leben gekommen war, hatte sich Hildegard aus der Stadt zurückgezogen. Sie verkaufte ihr Erbe in der Reichenstraße und tauschte es gegen ein ländliches Gut in Eppendorf ein. Niemand hätte geahnt, dass die frühere Ratsherrnfrau ein derart einfaches Leben auf dem Land dem in der Stadt vorzog – vielleicht nicht einmal sie selbst. Ebenso hatte sie es vorgezogen, nicht noch einmal zu heiraten. Zu schmerzlich war für sie die Erkenntnis gewesen, dass ihr Gemahl Teil des Geheimbundes war, der Albert und ihre Freundin Ragnhild vor vielen Jahren zu stürzen versucht hatte. Nein, sie wollte die letzten ihr verbliebenen Jahre in Frieden mit Gott verbringen, das stand für sie fest. Umso größer war jedes Mal die Freude darüber, ihre alten Freundinnen wiederzutreffen. »Erzählt, mein Lieben. Was gibt es Neues zu berichten?«
»Ach, Hildegard«, stöhnte Ragnhild bestürzt. »Leider ist etwas Schlimmes passiert. Runas Magd Agnes ist ein Unglück widerfahren.«
»Wirklich? Ja, aber was ist denn genau geschehen …?«, fragte die einstige Nachbarin und stieß dabei kleine weiße Wölkchen aus ihrem Mund aus.
Noch während die Frauen beisammenstanden und mit großer Betroffenheit von den Ereignissen berichteten, bemerkte Albert, der mit Thiderich und Walther nur wenige Schritte entfernt stand, wie jemand sich ihnen näherte. Es war Nicolaus von Rokesberghe mit seiner Gemahlin Greta.
»Seid gegrüßt, Albert von Holdenstede.«
»Domina Greta«, Albert deutete eine Verbeugung in Richtung der Ratsherrnfrau an und wandte sich dann wieder Nicolaus von Rokesberghe zu. »Ist es nicht bedauerlich, dass das diesjährige Weihnachtsfest vom Tode unseres Stadtherrn überschattet wird?«
»Ja, mindestens so bedauerlich wie die Umstände seines Todes selbst. Welcher Graf wünscht sich schon, an Altersschwäche dahinzuscheiden? Ich bin
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