Tochter des Schweigens
erscheinen.«
»Hast du seine Mandantin gesehen – diese Anna Albertini?«
»Ja, heute nachmittag.«
»Wie ist sie?«
»Jung, schön, und – ganz verloren, denke ich.«
Sie lachte kurz auf.
»Es wäre lustig, wenn Carlo sich in sie verlieben würde. Anwälte und Ärzte verlieben sich gelegentlich in ihre Klienten und Patienten, nicht wahr?«
»Ich glaube, daß Carlo dich liebt, Valeria.«
Sie schüttelte den Kopf.
»So nicht, Peter. Wenn ich ein lahmes Entlein wäre, vielleicht. Ich weiß, er glaubt, daß das, was er für mich empfindet, Liebe ist. Aber ich fürchte, es ist nicht meine Art. Und du, Peter, liebst du Ninette Lachaise?«
Es war sauber gemacht – wie ein Zaubertrick. Doch Landon wich der Frage aus:
»Dränge mich nicht, Valeria. Wie gesagt: ich fange eben an, mich zu unterhalten.«
Sie tätschelte seine Hand mit schwesterlicher Zustimmung: »Das ist gut Peter. Und ich freue mich für dich. Mit einer erfahrenen Frau ist es immer am besten. Wenn es nichts wird, gibt es keine Komplikationen und keinen Kummer. Laß uns noch einmal tanzen, dann müssen wir gehen.«
Danach war es nur allzu leicht. Die Schwüle der Nacht umschmeichelte sie, und als sie nach Siena zurückfuhren, legte sie verträumt den Kopf auf seine Schulter.
Vor der Pensione della Fontana fragte er sie, ob sie noch für ein letztes Glas mitkommen wollte. Sie willigte ein. Doch als sie in dem alten Zimmer mit der hohen Kassettendecke voller Schatten früherer Lieben allein waren, hob Leidenschaft sie wie eine Welle hoch und warf sie in Dunkelheit und Aufruhr auf das breite Bett.
In den frühen Morgenstunden wachte Landon auf und sah sie, vollkommen angezogen, auf dem Bettrand sitzen. Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände und küßte ihn auf die Lippen. Dann lächelte sie, und ihr Lächeln war voll fraulicher Weisheit –
»Jetzt bin ich glücklich, Peter. Ich habe es so gewollt, das weißt du. Und jetzt wirst du mich nie wieder verachten können. Nein, sage nichts. Es war gut für mich, und ich denke, es wird auch für dich gut sein. Ich wollte dir furchtbar weh tun; jetzt kann ich es nicht mehr. – Du brauchst übrigens keine Furcht vor mir zu haben. Carlo wird es nie erfahren und Ninette auch nicht. Aber wir beide werden es nie vergessen. Gute Nacht, mein Liebling.« Sie küßte ihn noch einmal, dann ging sie. Und er lag wach bis zur Dämmerung, während er im Vokabular seines Berufes nach Worten suchte, die beschreiben konnten, was ihm geschehen war.
Er war zu alt, um die Fassung zu verlieren wie ein Jüngling nach dem ersten Fehltritt mit einer verheirateten Frau, aber er war zu erfahren, um sich nicht über die Konsequenzen klar zu sein. Er hatte eine Schuld auf sich geladen: eine Persönliche Schuld, ein Unrecht an Ninette, ein noch größeres an Carlo Rienzi. Er konnte niemandem außer sich seither einen Vorwurf daraus machen – und er konnte sich den Luxus eines Geständnisses nicht leisten. Und so drängte sich ihm mit vollendeter Ironie das Rezept auf, das er allen seinen Patienten ausstellte: Erkennen Sie die Schuld an, erkennen Sie sich selber, tragen Sie das Wissen darum wie ein Nesselhemd und ertragen Sie es mit soviel Würde wie möglich.
Er trug es den ganzen Morgen. Er lief ziellos durch die Stadt über sonnenbeschienene Piazze und durch übelriechende Gäßchen. Er trank zuviel Kaffee und rauchte zu viele Zigaretten. Er verfluchte sich selber, stellte aber fest, daß er Valeria nicht verfluchen konnte. Eine Stunde vor Mittag saß er allein in einem Straßencafe, erschöpft, erniedrigt und mit dem Bewußtsein, daß dies eine Krise in seinem Leben und er nicht darauf vorbereitet sei.
Er war zu weit und zu lange gereist, um nicht zu wissen, daß es immer einige angenehme Ersatzlösungen für die große Leidenschaft gibt. Mit jeder konnte man durchaus glücklich überleben, wie ja auch die meisten Menschen ohne Trüffeln zum Frühstück oder Champagner zum Abendessen überlebten. Der halbverdurstete Reisende war glücklich mit einem Krug Wasser vom Dorfbrunnen und fragte nicht nach klaren Quellen. Sein Leben konnte sich zu einer Folge von Episoden wie der mit Valeria entwickeln, deren jede mit zunehmendem Alter und abnehmender Vitalität weniger und weniger bedeuten würde, und wenn es schon keine Ekstase gäbe, dann auch nicht die schmerzlichen Folgen der Liebe.
Liebe war ein Zustand, der der Agonie nahe verwandt schien. Doch wenn man ihn einmal erlebt hatte, wurde man in alle Ewigkeit von der
Weitere Kostenlose Bücher