Tochter des Schweigens
seiner Beichtkinder war mit Gewissensnöten zu ihm gekommen. Er wollte mir den Namen nicht sagen, aber offenbar handelt es sich um jemanden, der mit Belloni zusammen bei den Partisanen war. Fra Bonifazio hat ihm gesagt, sein Gewissen verpflichte ihn, alles zu sagen, was dem Mädchen helfen könnte. Er hat sich Bedenkzeit erbeten. Aber wenn er sich entschließt, zu sprechen, wird Fra Bonifazio mich sofort benachrichtigen. Ich hab' noch mal versucht, Sergeant Fiorello zum Reden zu bringen, aber ohne jeden Erfolg. Dann habe ich noch einen Privatdetektiv beauftragt, in den Dörfern der Umgebung nachzuforschen, ob er dort etwas über Belloni erfahren kann. Ein Mann wie Belloni muß einfach ein paar Feinde gehabt haben. Und heute morgen war ich bei Anna.«
»Ich gestern«, sagte Landon.
»Ich weiß. Sie hat es mir erzählt. Sie war dankbar, daß ihr, du und Galuzzi, so freundlich zu ihr wart.«
»Offenbar war sie mit dir gesprächiger als mit uns.« Landon lächelte und nippte an seinem Brandy. Rienzi kam und setzte sich auf den Bettrand. Er fragte besorgt:
»Was denkst du, Peter? Was denkt Galuzzi?«
»Auf keinen Fall ist sie geisteskrank«, sagte Landon mit Bestimmtheit. »Es sind Anzeichen von Trauma, Besessenheit und anderen psychopathischen Symptomen vorhanden. Galuzzi braucht noch etwas Zeit, um genau zu bestimmen, wie sehr ihr Zustand ihre Zurechnungsfähigkeit vermindert. Ich stimme mit ihm überein.«
»Ist das alles?«
»Was willst du mehr?«
Rienzi begann, auf und ab zu gehen. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und sprach in knappen, akzentuierten Sätzen.
»Ich brauche einen Ausgangspunkt, Peter. Einen Punkt, von dem aus ich kämpfen kann. Ich bin entsetzt darüber, was man diesem Mädchen angetan hat. Viel mehr als darüber, was sie selber getan hat. Weißt du, wie sie ist? Wie jemand, der sein ganzes Leben in einem Raum verbracht und aus dem gleichen Fenster in den gleichen kleinen Garten geblickt hat. Weißt du, was sie mir heute gesagt hat …? ›Jetzt kann ich lieben. Jetzt kann ich anfangen, Luigi glücklich zu machen.‹ Wie hätte sie wissen sollen, was sie getan hat! Sie ist wie ein Mensch von einem anderen Planeten.«
»Das Gericht wird einen anderen Standpunkt einnehmen, Carlo. Du solltest dir folgendes klar vor Augen halten: Sie wußte, was eine Pistole ist. Sie konnte immerhin die Fahrt mit dem Taxi planen und ausführen. Sie wußte, daß Mord eine Sache ist, die die Polizei angeht. Sie war sich über die Folgen im klaren. Sie lebte in einer Großstadt. Sie führte ihrem Mann den Haushalt. Sie hat eine gewisse Schulbildung und zieht sich wie eine Erwachsene an. Sie ist weder verrückt noch zurückgeblieben. Und sie hat sechzehn Jahre gewartet, einen Mann umzubringen. Ich will nicht behaupten, daß das die ganze Geschichte ist. Ich weiß, daß sie es nicht ist. Aber es ist auf alle Fälle die Geschichte, von der das Gericht ausgehen wird. Und du weißt so gut wie ich, daß das Gericht dabei stets die Frage der öffentlichen Ordnung im Auge hat und fürchten muß, daß etwaige Milde ein Wiederaufleben der Vendetta zur Folge haben kann.«
Dieser letzte Gedanke beeindruckte Rienzi am meisten. Er dachte einen Augenblick lang nach und sagte dann leise:
»Ich weiß das alles. Und mehr, Peter. Aber es gibt da etwas, das mich tief beunruhigt und das uns möglicherweise als Ausgangspunkt für die Verteidigung dienen kann. Dieser Mord war sechzehn Jahre lang geplant. Wenn das wahr ist, dann hat ihn Anna Albertini im Alter von acht Jahren beschlossen, in einem Alter, in dem sie vor dem Gesetz noch keine Verantwortung hat. Der Beschluß ist damals gefaßt worden, wenn auch die Tat selbst erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgeführt worden ist. Was ist in diesen sechzehn Jahren geschehen, Peter? In welchem Zustand befand sich das Mädchen während dieser Zeit? Welcher Schock hat sie zuerst in diesen Zustand versetzt?«
»Du stellst die gleiche Frage wie Galuzzi und ich.«
»Und wenn du mir keine Antwort geben kannst, Peter, dann kann auch keine Gerechtigkeit entstehen.«
Landon stellte die Kaffeetasse weg und schwang sich vom Bett. Dann fing auch er an, hin und her zu gehen, während er antwortete:
»Durch das Gesetz kann nur zufällig Gerechtigkeit entstehen. Das Gesetz dient in erster Linie der öffentlichen Ordnung; es ist eine abschreckende, eine strafende Waffe. Die Gerechtigkeit ist noch immer in Gottes Hand, und er braucht lange, um ein Urteil zu fällen.«
»Vielleicht können
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