Tochter des Schweigens
können.«
Landon zuckte hilflos die Schultern. »Wer soll das beantworten – ausgenommen der allmächtige Gott?«
»Und doch«, sagte Galuzzi düster, »maßen wir uns, wenn wir zu Gericht sitzen, stets die göttliche Funktion an, über Leben und Tod zu richten. Es kommt vor, daß ich im Zeugenstand um meinen eigenen Verstand zittere. Wollen Sie den Rest noch hören, oder wollen Sie sich das Mädchen erst einmal ansehen?«
»Ich würde sie gern mit Ihnen zusammen aufsuchen«, sagte Landon. »Sie könnten die Fragen stellen, und ich würde nur zuhören. Es ist schon schwierig genug, in der eigenen Sprache eine Untersuchung durchzuführen – in einer anderen gehen zu leicht die Nuancen verloren.«
»Lassen Sie uns zusammen essen gehen und eine Flasche Wein trinken«, sagte Emilio Galuzzi. »Ich glaube, wir haben einen schweren Nachmittag vor uns.«
Als Landon in die Pensione della Fontana zurückkehrte, senkte sich Dämmerung über die alte Stadt. Er war müde und bedrückt von der Erinnerung an das finstere Gefängnis und die Gesichter der unglücklichen Insassinnen.
Die Unterhaltung mit Anna Albertini war lang und langweilig gewesen, und trotz Galuzzis Geschicklichkeit und Landons Hilfe war es ihnen nicht gelungen, von Anna Einzelheiten über die Umstände beim Tod ihrer Mutter zu erfahren.
Seine Niedergeschlagenheit vertiefte sich, als er erfuhr, daß keinerlei Nachricht von Ninette vorlag. Nur ein Telegramm von Carlo aus Florenz war da und Valeria Rienzis Bitte um einen Anruf vor acht Uhr abends unter einer Nummer in Siena.
Carlos Telegramm war kurz und sagte wenig: Es war ein Scherz, aber ich bitte um Entschuldigung. Habe Fortschritte gemacht. Weitere Unterredungen in San Stefano heute abend. Morgen früh mit Mandantin. Bitte setze dich morgen mittag im Hotel Continentale mit mir in Verbindung.
Landon steckte das Telegramm in die Tasche, klingelte nach dem Stubenmädchen und bestellte ein Bad.
In der Marmorbadewanne zog er die Bilanz seiner Lage. Er hatte für ein der Reise und Erholung gewidmetes Jahr einfach zuviel von seiner Freiheit geopfert und zuviel von seinen persönlichen Interessen – und zwar Menschen, zu denen er im Grunde keine Beziehung hatte. Wenn der Fall Anna Albertini sich so weiterentwickelte, würde er weder zu seiner Erfahrung noch zu seinem Ruf beitragen. Er konnte sich immerhin seiner Verpflichtung gegenüber Carlo mit einem Bericht über seine und Galuzzis Erkenntnisse entledigen und einige Ratschläge über die Haltung der Verteidigung andeuten. Ascolini schuldete er nichts als die Höflichkeit eines Gastes. Ein Dankbrief und ein Geschenk würden da völlig genügen. Valeria schuldete er so viel – oder so wenig –, wie ein Sommerkuß wert war.
Und Ninette? Das war eine andere Frage. Er liebte sie. Er hatte ihr gesagt, er wolle sie heiraten. Sie war einer Antwort ausgewichen und hatte ihm gesagt, er könne bleiben oder gehen. Und was wollte er? Wieviel war er bereit zu zahlen? Welchen Weg würde er einschlagen?
Er war noch immer unmutig, weil sie ihn nicht angerufen hatte. Er wußte zwar, daß es unvernünftig war, das von ihr zu verlangen. Aber wenn ein Mann durch Jahre hindurch gewöhnt war, nach Frauen nur winken zu müssen, neigt er dazu, zuviel zu verlangen. Aber da waren noch andere Befürchtungen. Wenn die Laute so früh und so leicht einen Sprung bekam – was für Musik würde sie nach ein paar Jahren Ehe spielen? Vielleicht war es doch besser, zu packen und abzureisen. Glück war in jedem Hauptbuch ein zweifelhafter Posten – wer sollte das wohl besser wissen als ein Arzt für kranke Seelen?
Dann, plötzlich, wandelte sich seine Gereiztheit in unbekümmerte Rücksichtslosigkeit. Zum Teufel mit allen! Noch war er frei. Er hatte genug gegeben. Er hatte sich eine richtige Nacht verdient. Und wenn ein Mädchen geküßt werden wollte – warum nicht ihr und sich selber den Gefallen tun? Er stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und zog sich besonders sorgfältig an. Dann ging er und rief Valeria Rienzi an.
»Peter? Nett, daß du anrufst. Hättest du heute abend wohl ein bißchen Zeit für mich?«
»Ja, natürlich.«
»Wollen wir zusammen essen?«
»Gern. Wo treffen wir uns?«
Sie sagte ihm, sie sei bei einem Cocktail bei Freunden in der Via del Capitano, und schlug vor, er solle sie dort halb neun Uhr abholen. Sie könnten dann in ein Restaurant in der Nähe essen gehen. Es war ihm recht, und sie dankte ihm mit entwaffnender Liebenswürdigkeit.
Ein
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