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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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mitgenommen, wenn er zur Arbeit gegangen ist. Er mußte die Fabrik bewachen. Morgens, wenn er nach Hause kam, hat er sie ins Schreibtischschubfach getan.«
    »Hatten Sie Angst vor der Pistole?«
    »Nur im Traum. Am Tage habe ich sie oft in die Hand genommen und angesehen.«
    »Was haben Sie von der Pistole geträumt?«
    »Daß Luigi sie in der Hand hatte und damit auf meine Mutter zielte. Und dann war es nicht Luigi. Es war jemand anders. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich habe gewußt, es war Belloni. Dann habe ich versucht, zu ihm zu kommen, aber ich konnte nicht, und dann bin ich immer aufgewacht.«
    »Belloni ist der Mann, den Sie umgebracht haben?«
    »Ja.«
    »Warum haben Sie ihn umgebracht?«
    »Er hat meine Mutter erschossen.«
    »Erzählen Sie mir davon, Anna.«
    »Ich möchte nicht darüber sprechen. Es ist vorbei. Belloni ist tot.«
    »Erschreckt es Sie, daran zu denken?«
    »Nein. Ich möchte einfach nicht darüber sprechen.«
    »Schön. Dann erzählen Sie mir etwas von Ihrem Vater.«
    »Ich kann mich kaum an ihn erinnern. Er wurde eingezogen, als ich fünf war. Dann haben wir erfahren, daß er gefallen ist. Mutter hat viel geweint, aber schließlich ist sie drüber weggekommen. Ich zog in ihr Zimmer und habe bei ihr geschlafen.«
    »Bis die Deutschen ins Dorf kamen?«
    »Nein. Immer.«
    »Als die Deutschen da waren, haben Sie da auch bei ihrer Mutter geschlafen?«
    »Ja. Sie hat nachts immer abgeschlossen.«
    »Wo sind Sie zur Schule gegangen?«
    »In San Stefano. Bei den Braunen Schwestern.«
    »Was haben Sie da gelernt?«
    »Lesen, Schreiben und Rechnen. Und auch den Katechismus.«
    »Steht nicht im Katechismus, Anna, daß man nicht töten darf?«
    »Ja.«
    »Aber Sie haben Belloni getötet. War das nicht eine Sünde?«
    »Ich denke, ja.«
    »Macht Ihnen das nichts aus?«
    »So habe ich nie daran gedacht. Ich habe nur gewußt, ich muß ihn umbringen, weil er meine Mutter umgebracht hat.«
    »Haben Sie das immer gewußt?«
    »Ja.«
    »Wieso haben Sie es gewußt?«
    »Ich habe es einfach gewußt. Wenn ich früh aufwachte, wenn ich kochte oder saubermachte oder zum Einkaufen ging, immer habe ich es gewußt.«
    »Wie haben Sie sich schließlich entschlossen, ihn umzubringen?«
    »Es war die Pistole.«
    »Aber Sie haben gesagt, die Pistole wäre immer dagewesen. Luigi hätte sie nachts mit zur Arbeit genommen und morgens immer in die Schreibtischschublade gelegt. Sie haben gesagt, Sie hätten sie oft herausgenommen und angesehen. Warum haben Sie so lange gewartet?«
    »Weil es anders war. An diesem Morgen hat Luigi die Pistole nicht in den Schreibtisch getan. Er hat sie auf dem Nachttisch liegengelassen. Als er eingeschlafen war, habe ich sie genommen und bin nach San Stefano gefahren und habe Belloni erschossen. Bitte, können wir eine Pause machen?«
    Galuzzi stand auf und schaltete das Gerät ab. Dann wandte er sich Landon zu, der am Tisch saß und sich auf einem Briefumschlag Notizen machte.
    »Also, Landon, das wäre der erste Teil. Was halten Sie bis jetzt davon?«
    »Bis jetzt ist es beinahe klassisch simpel. Schock und Trauma, hervorgerufen durch die Umstände beim Tod der Mutter. Die Unfähigkeit des Mädchens, die Situation zu meistern, und eine daraus resultierende Blockierung der Ich-Funktion. Daher die Besessenheit, die Alpträume, die sexuelle Unfähigkeit, die Übertragung von Symbolen.« Er zuckte die Schultern. »Ich sollte mich nicht so rasch festlegen.«
    Galuzzi nickte: »Wie Sie sagen, mein Freund, es ist beinah ein Lehrbuchfall. Wir werden selbstverständlich tiefer vordringen müssen und schließlich die Beschreibung bekommen, die sie sich vorläufig zu geben weigert. Eine Beschreibung der Umstände beim Tod ihrer Mutter. Ich zweifle nicht, daß wir dabei auf einige Verwicklungen stoßen werden, von denen wir bisher nichts haben ahnen können. Aber selbst wenn sich unsere ersten Vermutungen bestätigen sollten – wo stehen wir dann?«
    »Es geht einfach um die menschliche Natur und um bestimmte Faktoren persönlicher Verantwortlichkeit«, sagte Landon. »Die alten Moralisten haben schon gewußt, warum sie sich so lange weigerten, die Doktrin von der Willensfreiheit aufzugeben.«
    »Genau meine Meinung, Landon«, sagte Galuzzi und nickte. »Die Frage, die das Gericht von uns beantwortet wissen will, ist einfach, ob in diesem Mädchen noch genug Willensfreiheit gewesen ist, genug Einsichtsvermögen, um ihre Handlungsweise beurteilen und sich dagegen entscheiden zu

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