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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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vages Schuldbewußtsein ließ ihn Ninettes Nummer anrufen, aber sie meldete sich nicht. Er war ärgerlich und entschied mit männlicher Naivität, daß eine kleine Trennung ihnen beiden guttun würde. Es war erst halb acht, und er beschloß, die Zeit für ein paar Briefe zu nutzen.
    Während er unbeantwortete Korrespondenz erledigte, empfand er ein befriedigendes Gefühl von Selbstgerechtigkeit. Er war ein vernünftiger Bursche, der wußte, was er tat. Ein Mann mit einem Bankkonto und dem Bewußtsein, im Dienste der Menschheit etwas zu leisten. Alles andere – ausgenommen Ninette Lachaise – war ein provinzielles Abenteuer, ein Zwischenspiel, das er vergessen würde, sobald es vorüber war.
    Dann aber, ohne jede Warnung, überfiel ihn eine dieser Stimmungen, in denen die Schrecknisse und Mysterien des Lebens plötzlich übergroß und überdeutlich werden.
    Er hatte in Rom ein Empfehlungsschreiben vorgewiesen und war unversehens in ein Familiendrama verwickelt worden. Er hatte sich von einem halbflüggen Anwalt bestricken lassen und mußte ihn plötzlich über das Schicksal einer Mandantin beraten. Er hatte mit einer neuen Bekanntschaft zu Abend gegessen – wie schon tausendmal – und war plötzlich zur Ehe entschlossen. Jetzt würde er mit einer anderen dinieren und war sich durchaus bewußt, daß das sehr wohl der Anfang neuer Verwicklungen sein konnte.
    Es war eine merkwürdige Erfahrung, als stünde er auf einem hohen Berg und blickte auf ein schattenerfülltes Tal hinab. Das Tal war leer und lautlos. Er war einsam – eine Kreatur aus dem Niemandsland ohne Weg und Ziel. Dann, plötzlich, flammten Lichter auf, hier und da und dort, und das Tal war mit einem Schlag von Menschen belebt, und er war gezwungen, hinunterzugehen und sich unter sie zu mischen.
    Es war nicht gut, allein zu sein. Aber es kostete einen Preis, sich dem Pilgerzug anzuschließen, und eine Gebühr für jeden Reisetag. Man mußte sein Brot unter Tränen brechen und dünnen Wein voller Dankbarkeit trinken. Man mußte sich dareinfinden, beneidet und gehaßt zu werden, wenn auch geliebt. Und wenn die Karawane das versprochene Ziel nicht erreichte, dann mußte man in der Wüste warten. Das war das Schreckliche am Menschsein, daß jeder mit allen zusammengekettet war auf Gedeih und Verderb, so daß jede Krankheit zur Epidemie werden konnte und die Schuld einiger weniger alle zu Sündenböcken machte.
    Ein ziemlich trostloser Gedanke für einen Sommerabend in der Toskana. Landon wies ihn von sich und ging, um mit Valeria Rienzi zu dinieren.
    Sie verließen die Stadt und fuhren zu einem Landgasthof, wo sie unter einem Rebendach aßen und einen Wein aus dem Garten der Wirtschaft tranken. Der Wein war stark, ein Trio musizierte, und nach zwanzig Minuten war Landon entspannter und gelöster, als er es seit Tagen gewesen war.
    Auch Valeria schien dankbar für den Abend und neckte ihn gutgelaunt:
    »Du scheinst endlich anzufangen, dich zu unterhalten, Peter – ein kleines Drama, eine kleine Komödie, eine kleine Romanze.«
    »Wird langsam Zeit, meinst du nicht auch?«
    »Selbstverständlich. Aber vor dem heutigen Abend hätte ich nie gewagt, es zu sagen.« Sie schmollte und runzelte die Stirn. »Immer, wenn ich mit dir sprach, kam ich mir vor wie ein kleines Mädchen bei der Beichte.«
    »Heute nicht, hoffentlich.« Landon streckte lachend die Hand über den Tisch. »Komm, laß uns tanzen, dann will ich dir beichten.«
    Es war leichthin gesagt, und sie sah mit der gleichen Leichtigkeit darauf, daß er sich daran hielt. Während sie dicht aneinandergeschmiegt tanzten, während sie dasaßen und ihren Wein tranken, fragte sie ihn aus, und er redete unbefangen über sich selber, seine Familie, seine Karriere und über die Situation, die ihn bewogen hatte, London für eine Weile zu verlassen. Valeria war eine gute Zuhörerin, und wenn sie nicht kokettierte, strahlte sie eine Wärme und Schlichtheit aus, die er ihr niemals zugetraut hätte. Schließlich kamen sie auf Carlo zu sprechen, und sie fragte ihn: »Glaubst du immer noch, er macht es richtig, Peter?«
    »Ich glaube, er tut das Richtige für sich: Wenn er vielleicht auch nichts dabei gewinnen mag, denke ich doch, es ist gut, daß du und dein Vater beschlossen habt, ihn zu unterstützen.«
    Sie sah ihn prüfend an.
    »Glaubst du, es interessiert ihn in diesem Augenblick, ob wir ihn unterstützen oder nicht?«
    »Unbedingt. Vielleicht würde er es nicht zugeben, aus Furcht, schwach zu

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