Tochter des Schweigens
wartete stehend, bis die Richter sich gesetzt und ihre Papiere geordnet hatten.
Der Präsident war eine imponierende Gestalt: ein großer, leicht gebückter Mann mit weißem Haar und einem altersweisen Gesicht, in dem Verständnis und die Unpersönlichkeit des Gesetzes einander zu widerstreiten schienen. Er runzelte die Stirn über den Lärm, mit dem die Menge sich wieder niederließ, sagte jedoch nichts. Dann trat der Kanzler vor und erklärte:
»Mit Genehmigung des Präsidenten und der Mitglieder des Gerichts: die Republik kontra Anna Albertini. Die Anklage: vorsätzlicher Mord.«
Landon fühlte den Druck von Ninettes Hand auf seinem Arm. Er verspürte einen leisen Druck in der Magengegend. Die Dreschflegel des Gesetzes begannen, auf die Tenne zu schlagen, und sie würden nicht aufhören, bis die Spreu vom Weizen getrennt und die letzten Körner für die Mühle herausgedroschen waren.
Der Präsident wandte sich an das Mädchen auf der Anklagebank:
»Sie heißen Anna Albertini, geborene Moschetti, aus dem Dorf San Stefano, bis vor kurzem wohnhaft in Florenz?«
Ihre Antwort war tonlos, aber bestimmt:
»Ja.«
»Anna Albertini, Sie sind vor diesem Gericht des vorsätzlichen Mordes an einem gewissen Gianbattista Belloni, Bürgermeister von San Stefano, angeklagt. Und zwar sollen Sie den Mord am vierzehnten August dieses Jahres begangen haben. Haben Sie einen Rechtsvertreter oder bedürfen Sie des Beistands eines Pflichtanwalts?«
Carlo Rienzi erhob sich und erklärte:
»Die Angeklagte wird von mir vertreten, Herr Präsident – Carlo Rienzi, Rechtsanwalt.«
Er setzte sich, und der Präsident beugte sich kurz über seine Papiere. Dann wandte er sich wieder an die Angeklagte:
»Laut Anklageschrift, die mir hier vorliegt, sind Sie, Anna Albertini, am Mittag des genannten Tages mit einem Taxi in San Stefano eingetroffen. Sie sind zum Haus des Bürgermeisters gegangen und haben gebeten, ihn sprechen zu dürfen. Sie wurden zum Eintreten aufgefordert. Aber Sie lehnten ab und warteten an der Tür. Als der Bürgermeister herauskam, schossen Sie fünfmal auf ihn und gingen dann zur Polizeistation, wo Sie Ihre Waffe ablieferten, verhaftet und später des Mordes beschuldigt wurden. Sie haben ausgesagt: ›Er hat meine Mutter im Krieg erschossen. Ich habe gelobt, ihn zu erschießen. Ich habe es getan.‹ Wollen Sie diese Aussage zurückziehen oder in irgendeiner Weise ändern oder ergänzen?«
Carlo Rienzi antwortete für sie:
»Wir wollen diese Aussage meiner Mandantin weder ändern noch zurückziehen. Wir betonen ausdrücklich, daß sie ohne Beeinflussung oder Zwang gemacht wurde.«
Der Präsident sah ihn verwundert an.
»Hat der Herr Verteidiger die Aussage gelesen?«
»Jawohl, Herr Präsident.«
»Und Sie sind sich über den belastenden Charakter völlig im klaren?«
»Völlig, Herr Präsident. Jedoch möchten wir beantragen, daß im Interesse der Gerechtigkeit diese Aussage im Lichte des Beweismaterials betrachtet werde, das wir dem Gericht noch vorlegen werden.«
»Der Antrag ist genehmigt, Herr Rienzi.« Er wandte sich an den Vertreter der Anklage: »Der Herr Staatsanwalt wird gebeten, seinen Fall vorzutragen.«
Der große hakennasige Staatsanwalt erhob sich und verkündete mit milder Stimme:
»Herr Präsident, meine Herren Richter. Der Tatbestand dieses Verbrechens ist so einfach, so klar und brutal, daß es keiner rednerischen Leistung von meiner Seite bedarf, Sie zu einer Verurteilung zu veranlassen. Mit Genehmigung des Herrn Präsidenten schlage ich vor, einfach meine Zeugen vorzuführen.«
»Bitte.«
Der erste Zeuge war der untersetzte Sergeant Fiorello. Trotz seines finsteren Gesichtes und seiner dörflichen Sprechweise machte er im Zeugenstand doch eine eindrucksvolle Figur. Seine Antworten waren präzis, seine Rede flüssig. Er hatte zwanzig Jahre in San Stefano Polizeidienst gemacht und stand jetzt der dortigen Station vor. Er identifizierte die Angeklagte und die Mordwaffe, schilderte die Umstände und Auswirkungen des Mordes und erntete ein Lob des Präsidenten für seine hervorragende Handhabung des Falles. Als die Staatsanwaltschaft ihn entließ, stand er als ein mustergültiger Diener der Ordnung und sympathischer Freund des Volkes da.
Dann lieferte Carlo Rienzi seine erste Überraschung. Er lehnte es ab, den Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, bat aber, ihn später noch einmal zur Vernehmung durch die Verteidigung aufrufen zu dürfen. Der Präsident blickte auf:
»Das ist ein
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