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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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Gerechtigkeit durch die eine Methode genauso gut oder genauso schlecht zum Siege verholfen wie durch die andere.
    Jedes Gericht hat etwas von einem Theater an sich. Etwas von einer Bühne mit allen Requisiten sowie Logen und Parkettplätzen für ein Publikum, das für die Akteure ebenso leidenschaftlich Partei ergreift wie im Theater. Die Hauptdarsteller sind im Kostüm. Die Dialoge folgen vorgegebenen Richtlinien, so daß, genau wie im Theater, die Wirklichkeit durch Unwirklichkeit enthüllt und Wahrheit durch Fiktion demonstriert wird.
    Landon und Ninette kamen frühzeitig und fanden doch den Vorraum bereits voller Menschen: Reporter, Fotografen, Zeugen, Neugierige, nervöse Beamte; alle redeten durcheinander.
    Der alte Ascolini drängte sich durch die Menge, um sie zu begrüßen. Er sah abgespannt aus, schien es Landon. Die rosa Wangen waren blasser, die Haut durchscheinend, doch er begrüßte sie mit dem alten beißenden Humor.
    »Also zeigen sich die verliebten Vögel doch wieder einmal. Lassen Sie sich ansehen, meine Liebe – . Gut! Bis jetzt ist die Liebe noch ein angenehmer Zeitvertreib, wie? Vielleicht werden Sie bald schon Zeit finden, mein Porträt zu beenden. Und Sie, Landon, treten also als sachverständiger Gutachter der Verteidigung auf, wie? Sie sind ein hartnäckiger Bursche, nicht wahr? Sie haben uns überrascht – am allermeisten Valeria, glaube ich.«
    »Ist sie hier?« fragte Ninette.
    »Dort drüben. Schmollt in einer Ecke. Ich habe sie in den letzten Wochen nur wenig zu Gesicht bekommen. Sie hat ihre eigenen Sorgen, glaube ich. Ich fürchte, ich kann ihr nicht helfen.«
    Das war ein heikles Thema, und Landon versuchte, ihn davon abzubringen.
    »Wie fühlt sich Carlo heute morgen?«
    »Ziemlich angestrengt.« Ascolini lächelte. »Sollten Sie besser wissen als ich, Landon. Sie haben doch mit ihm gearbeitet.«
    Landon überhörte den Stich und fragte geradeheraus:
    »Was haben Sie für ein Gefühl bei dem Prozeß, Doktor?«
    Ascolini breitete die Hände aus:
    »Es ist genau das eingetreten, was ich erwartet habe. Ein feindseliges Klima und unbestimmte Gerüchte von bevorstehenden Überraschungen. Carlo hat mir kaum etwas erzählt. Aber wenn Sie mal Zeit haben, Landon, würde ich mich jederzeit freuen, ein Glas Wein mit Ihnen beiden zu trinken.«
    »Jederzeit, dottore«, sagte Ninette lächelnd. »Klopfen Sie einfach an die Tür.«
    »Bei jungen Liebesleuten ist es für gewöhnlich sicherer, vorher anzurufen. Aber ich komme bestimmt.«
    Als die Tür geöffnet wurde, kam Bewegung in die wartende Menge, und sie wurden mit in den Gerichtssaal gedrängt. Es dauerte zehn Minuten, bis alles sich beruhigte, dann betraten die Akteure nacheinander die Bühne.
    Zuerst kam der öffentliche Ankläger: ein großer, hakennasiger Mann mit eisengrauem Haar. Er suchte seinen Platz rechts vom Richtertisch aus und begann eine leise Unterhaltung mit seinen Assistenten. Dann kamen der Kanzler und der Stenograf, ein bißchen hochtrabende, uninteressiert wirkende Leute, die sich an einen Tisch in der Nähe der Anklagebank setzten, dem Platz des Anklägers gegenüber.
    Als nächster erschien Carlo Rienzi mit zwei ziemlich schäbig wirkenden Kollegen mittleren Alters. Sie nahmen an einem Tisch, dem Richtertisch gegenüber, Platz. Carlo war in den letzten Wochen recht gealtert. Er hatte sehr abgenommen; sein schwarzer Mantel hing wie ein Sack von seinen schmalen Schultern. Sein Gesicht war angespannt und gelblich. Tiefe Falten lagen um Augen und Mund. In seinem gestärkten weißen Jabot und dem schwarzen Seidenmantel wirkte er wie ein von Gewissensqualen und Askese abgezehrter Mönch.
    Ninette legte ihre Hand auf Landons Arm und flüsterte:
    »Wir müssen uns um ihn kümmern, Peter. Er sieht so schrecklich einsam aus.«
    Landon nickte geistesabwesend. Obgleich sie es nicht so gemeint hatte, erinnerte ihn die Bemerkung doch daran, daß auch seine wochenlange Mitarbeit die Schuld Rienzi gegenüber noch nicht vermindert hatte.
    Plötzlich erhob sich aufgeregtes Geflüster: Anna Albertini betrat den Saal und wurde auf die Anklagebank geführt. Das Geflüster verebbte rasch, und das Mädchen ließ nicht erkennen, ob sie es überhaupt bemerkt hatte. Sie umklammerte die Messingstange vor der Bank und stand stocksteif da, mit niedergeschlagenen Augen, blutleerem Gesicht; selbst unter dem harten gelben Licht noch immer schön.
    Beim Eintritt des Vorsitzenden und seiner Richterkollegen erhob sich das Publikum schweigend und

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