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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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unbeholfener Ausdrucksweise. Seine Aussage war einfach und eindeutig. Er war Anna Albertini zweimal gegenübergestellt worden: zum erstenmal am Mordtag und später noch einmal bei der Voruntersuchung. Sie hatten zusammen die Schule besucht, und er hatte sie sofort erkannt. Beide Male hatte er sie gefragt, warum sie seinen Vater umgebracht hätte, und jedesmal hatte sie vor Zeugen geantwortet: »Ich habe keinen Streit mit dir, Giorgio. Nur mit ihm. Ich habe lange warten müssen, aber jetzt ist es vorbei.«
    Als Rienzi darauf verzichtete, den Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, runzelte der Präsident die Stirn, und die Richter sahen sich an. Ninette wandte sich an Peter und fragte ängstlich:
    »Was tut er nur, Peter?«
    »Laß ihm Zeit, Liebling. Das ist doch nur die erste Runde.«
    »Sieh Doktor Ascolini an.«
    Er sah sich um. Der alte Herr hatte den Kopf in die Hände gelegt, während Valeria aufrecht neben ihm saß, ein kleines ironisches Lächeln auf den Lippen. Der Staatsanwalt rief mit spürbarer Befriedigung seinen nächsten Zeugen auf.
    »Luigi Albertini, Ehemann der Angeklagten.«
    Alle Köpfe fuhren herum, als Anna einen unterdrückten Schrei ausstieß: »Nein, Luigi, nein!«
    Es war das erste Zeichen von Bewegung, das sie von sich gab. Mit weitaufgerissenen Augen hielt sie ein zerknülltes Taschentuch vor den Mund gepreßt, und es schien einen Augenblick, als wollte sie auf den hübschen jungen Mann zustürzen, der den Zeugenstand betrat. Einer der Wärter legte beschwichtigend eine Hand auf ihre Schulter; sie saß steilaufgerichtet, die Augen geschlossen, auf der Anklagebank, als weigerte sie sich, dem bevorstehenden Unheil ins Gesicht zu sehen. Der junge Mann wurde vereidigt, und der Präsident begann, mit ruhiger Stimme zu fragen:
    »Sie heißen Luigi Albertini und sind der Ehemann der Angeklagten?«
    »Ja.«
    Die Antwort kam kaum vernehmbar, und der Präsident ermahnte ihn:
    »Das ist ein schmerzlicher Augenblick, junger Mann, aber Sie sind hier, um vom Gericht gehört zu werden. Bitte sprechen Sie lauter. Wie lange sind Sie verheiratet?«
    »Vier Jahre.«
    »Haben Sie die ganze Zeit mit Ihrer Frau zusammen gelebt?«
    »Ja.«
    »Was sind Sie von Beruf?«
    »Ich bin Nachtwächter in der Elena-Textilfabrik in Florenz.«
    »Wie liegt Ihre Arbeitszeit?«
    »Von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens.«
    »Tragen Sie bei Ihrer Arbeit eine Pistole bei sich?«
    »Ja.«
    Auf ein Zeichen des Präsidenten ging ein Gerichtsdiener zum Zeugenstand und zeigte ihm die Waffe.
    Der Präsident fragte:
    »Erkennen Sie diese Waffe?«
    »Ja, es ist meine.«
    »Wann haben Sie sie zum letztenmal gesehen?«
    »Nachdem ich am Morgen des vierzehnten August nach Hause gekommen bin. Ich habe sie auf den Nachttisch gelegt. Gewöhnlich tue ich sie in die Schreibtischschublade, aber an diesem Morgen war ich besonders müde und habe es vergessen.«
    »War sie geladen?«
    »Ja.«
    »Was tun Sie gewöhnlich, wenn Sie vom Dienst nach Hause kommen?«
    »Ich esse und gehe schlafen.«
    »Haben Sie das auch am Morgen des vierzehnten August gemacht?«
    »Ja.«
    »Wann sind Sie aufgewacht?«
    »Um drei Uhr nachmittags.«
    »War Ihre Frau da zu Hause?«
    »Nein.«
    »Wo war sie?«
    »Das wußte ich nicht. Sie hatte einen Zettel hingelegt ich solle mich nicht beunruhigen, sie würde in ein paar Tagen wieder zurück sein.«
    »Wann haben Sie das Fehlen Ihrer Pistole bemerkt?«
    »Als ich den Zettel fand.«
    »Wann haben Sie sie wiedergesehen?«
    »Als die Polizei mich zu ihr nach Siena brachte.«
    »Danke.«
    Der Präsident sah Rienzi fragend an.
    Rienzi erhob sich langsam und sagte:
    »Herr Präsident, ich muß das hohe Gericht noch einmal um Nachsicht bitten. Auch diesen Zeugen möchte ich erst zu einem späteren Zeitpunkt ins Kreuzverhör nehmen.« Der Präsident schien unwillig und sagte mit Schärfe:
    »Ich möchte dem Herrn Verteidiger zu bedenken geben, daß das Gericht sein Urteil auf Grund der Tatsachen fällt, die in der Anklageschrift aufgeführt sind und in der Beweisaufnahme erhärtet werden. Dem Herrn Verteidiger wird mit Nachdruck empfohlen, sich nicht auf taktische Manöver zu verlassen.«
    »Wenn Sie gestatten, Herr Präsident«, sagte Rienzi fest, »dieses Gericht ist dafür da, Recht zu sprechen. Und es wäre mehr als traurig, wenn eine allzu starre Anwendung der Verfahrensregeln der Gerechtigkeit in den Arm fallen würde.«
    Selbst einem unbefangenen Beobachter mußte das eine riskante Bemerkung scheinen. Die Beisitzer sahen

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