Tochter des Schweigens
»Betrachten Sie bitte, was Carlo bis jetzt getan hat. Er hat den Richtern ein Bild von sich selber vermittelt, was sie zweifeln läßt, ob unter solchen Umständen der Angeklagten Gerechtigkeit widerfährt. Infolgedessen lassen sie ihm die Zügel lockerer, als sie es sonst tun würden. Er hat die Anklage ihre Beweise in einem einzigen Vormittag vortragen lassen. Seine Methode erlaubt ihm, einen wichtigen Zeugen der Anklage zu Anfang der neuen Sitzung zu befragen und andere im Lichte neuen Beweismaterials ins Kreuzverhör zu nehmen. Das ist ein solider Schlachtplan – ganz besonders bei einem so wenig erfolgversprechenden Fall.«
»Carlo würde ermutigt, wenn er Sie das sagen hörte.«
Ascolini runzelte die Stirn und antwortete traurig:
»Das möchte ich bezweifeln. Das Klima zwischen uns ist schlechter denn je. Valeria hält ihm jetzt diesen Lazzaro direkt unter die Nase. Er muß einfach glauben, daß ich die Affäre billige.«
»Sie richtet sich selber zugrunde«, sagte Ninette mit plötzlich aufwallendem Zorn. »Sieht sie das denn nicht?«
»Deutlicher als Sie, denke ich«, sagte der alte Herr düster. »Aber es gibt nun mal Naturen, die sich mit nichts begnügen können. Ich bin so ein Mensch und sie auch. Uns befriedigt nur, aus jedem Augenblick das Letzte herauszuholen. Es ist, wenn Sie so wollen, Eroberungstrieb und nicht Lebensfreude. Wir suchen zu dominieren, und wenn wir das nicht können, müssen wir zerstören. Carlo hat sich von uns zurückgezogen. Sein ganzes Interesse ist auf diesen Fall gerichtet – und, wie ich fürchte, auf seine Mandantin.«
»Das fürchte ich auch«, sagte Landon. »Ich habe in den letzten Wochen diese Entwicklung verfolgt. Ich habe versucht, ihn zu warnen. Ich habe ihn auf die Gefahren für sich und seine Mandantin hingewiesen. Aber ich fürchte, er kann oder will sie nicht sehen. Ich mache mir ernstlich Sorgen um ihn. In seinem Beruf braucht ein Mann, genau wie in jedem anderen, einen Ort, an den er sich zurückziehen kann. Wenn er den zu Hause nicht findet, kann er sich entweder auf eine zu intensive Bindung oder gar auf eine gefährliche Identifikation mit seinem Mandanten einlassen.«
Ascolini nickte zustimmend und fragte interessiert:
»Und wozu neigt Carlo?«
»Er glaubt, es ist eine intensive Bindung, eine Hingabe an die Sache seines Klienten. Ich fürchte, es ist mehr. Er macht kein Geheimnis aus seinem Mitgefühl für Anna Albertini. Er opfert sich auf für ihr Wohlergehen und für die Stärkung ihres Selbstvertrauens. Und sie hat sich schon daran gewöhnt, sich mit allem und jedem an ihn zu wenden. Das macht alles doppelt gefährlich.«
»Ich weiß«, sagte Ascolini. »Valeria macht Witzchen darüber, und das ist schlimm für einen Mann, der am Rande seiner Nervenkraft angekommen ist. Aber jetzt wehrt er sich schon dagegen. Er läßt uns schon nicht mehr mit sich umspringen, wie wir das bisher gewohnt waren. Der Junge ist zum Mann geworden, und im Lauf der Jahre hat sich allerhand Zorn in ihm angesammelt.«
Während des Essens sprachen sie von angenehmeren Dingen, aber beim Kaffee ging es schon wieder um den Prozeß, und der alte Herr erläuterte seine Ansichten über die Probleme der Verteidigung.
»In einem Fall wie diesem, wo der Tatbestand unumstößlich feststeht, gibt es keine Hoffnung auf Freispruch. Keine Gesellschaft kann sich mit einem Mord einfach abfinden. Sie haben sich mit Carlo auf ein Plädoyer auf mildernde Umstände geeinigt. Wegen Provokation und verminderter Zurechnungsfähigkeit. Ihr Problem ist dann selbstverständlich, daß Sie sich auf ein Gebiet zweifelhafter und sehr heikler Begriffsdefinitionen begeben, wo der Erfolg ebensosehr von der Geschicklichkeit des Anwalts wie von der Legalität seines Antrags abhängt. Hier kommt es viel auf Erfahrung an. Und die fehlt Carlo.«
»Ich glaube, Sie unterschätzen ihn immer noch, dottore«, sagte Ninette.
»Vielleicht.« Ascolini lächelte. »Aber selbst wenn, mein Kind, fürchte ich, daß dieses Gericht strenger sein wird, als Sie denken. Insbesondere, nachdem ein allzu freizügiges Urteil der öffentlichen Ordnung abträglich sein könnte.«
»Sie meinen Vendetta?«
»Vendetta, Verbrechen aus Leidenschaft. Keine Gesellschaft kann sich damit abfinden, wie groß auch immer der Anlaß sein mag.« Er schob das Thema als unlösbar beiseite. »Deswegen repräsentiert auch eine Frau die Gerechtigkeit. Sie ist wankelmütig, paradox, unbarmherzig – aber sie hat stets ein Auge auf die
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