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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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zu fürchten. Zum erstenmal fühle ich, daß ich ich selber bin.«
    Rienzi starrte sie an, bewegt von Mitleid, Verwunderung und einer Art sprachloser Furcht.
    »Was waren Sie vorher, Anna?«
    Ihr Gesicht umwölkte sich, und ihre Augen wurden plötzlich trübe.
    »Ich habe es nie gewußt. Das war es ja – ich habe es nie gewußt.«
    Er war erschüttert und sagte nach einer Weile sanft:
    »Wir haben eine Chance, Anna. Eine kleine Chance. Vielleicht gelingt es uns, zu erreichen, daß Sie mit einer nur sehr kleinen Strafe davonkommen.«
    »Ich hoffe es«, sagte Anna Albertini. »Um Ihretwillen.«
    Rienzi starrte sie mit offenem Munde an.
    »Um meinetwillen?«
    »Ja. Ich weiß, daß dieser Fall Ihnen sehr viel bedeutet. Wenn Sie ihn gewinnen, werden Sie der große Advokat sein, der Sie gerne sein möchten.«
    »Wieso wissen Sie das?«
    »Ich bin kein Kind«, sagte Anna Albertini.
    Rienzi sah unentschlossen auf seinen Teller und begann wieder: »Sagen Sie mir, Anna, wenn wir Erfolg haben und Sie mit einer leichten Strafe davonkommen, was werden Sie tun, wenn Sie aus dem Gefängnis entlassen werden?«
    »Was ich immer gewollt habe – zu meinem Mann zurückgehen, ihm eine gute Frau sein und ihm Kinder schenken.«
    »Sind Sie sicher, Sie könnten es?«
    »Warum nicht? Ich habe Ihnen ja gesagt, ich bin ein neuer Mensch. Die Alpträume sind vorüber.«
    »Schlimmere könnten Sie erwarten«, sagte Rienzi hart. Er stieß seinen Stuhl zurück und ging zum Fenster, um durch das Eisengitter auf das kleine Stück Himmel zu sehen. Das Mädchen beobachtete ihn mit kindlicher Verwirrung. Sie sagte unglücklich:
    »Ich verstehe Sie überhaupt nicht.«
    Rienzi fuhr herum, starrte sie einen Augenblick an und stieß dann heftig hervor:
    »Anna, ich versuche, Ihnen etwas klarzumachen. In diesem Augenblick und noch bis zum Ende des Prozesses sind Sie in meiner Hand. Ich handle für Sie, denke für Sie, spreche für Sie. Aber später, wie auch immer die Sache ausgehen mag, werden Sie all das selber tun müssen. Sie werden ein neues Leben gestalten müssen. Innerhalb der vier Wände des Gefängnisses oder außerhalb in der großen Welt. Sie müssen anfangen, sich darauf vorzubereiten, jetzt schon. Sie werden allein sein, verstehen Sie?«
    »Wieso werde ich allein sein? Ich bin mit Luigi verheiratet. Und außerdem werden Sie mir helfen, nicht wahr?«
    Rienzi antwortete vorsichtig:
    »Ein kluger Anwalt interessiert sich nur für den Fall, Anna – nicht für das Privatleben seiner Mandantin.«
    »Aber Sie interessieren sich für mich, privat, meine ich?«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Ich fühle es einfach. Wenn ich vor dem Gericht stehe, weiß ich gewiß, solange ich an Sie denke, kann nichts passieren.«
    »Das stimmt nicht, Anna. Ich bin ein ganz gewöhnlicher Anwalt, der einen Fall betreut. Ich kann keine Wunder vollbringen. Sie dürfen keine Wunder erwarten.«
    Es war, als höre und sehe sie ihn nicht. Mit der pathetischen Einfachheit eines Kindes fuhr sie fort, sich auszusprechen:
    »Für mich sind Sie der einzige Mensch im Gericht. Die anderen sehe ich kaum. Ich höre kaum, was sie sagen. Es ist, als ob – als ob …«
    Rienzi fragte scharf:
    »Als ob was?«
    »Als ob Sie meine Hand hielten, wie es meine Mutter immer getan hat.«
    »Allmächtiger, nein!«
    Das Mädchen starrte ihn verwirrt an.
    »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
    »Essen Sie jetzt, Anna«, sagte Rienzi mit Fassung. »Ihr Essen wird kalt.«
    Er wandte sich um und ging nachdenklich in dem engen Raum auf und ab, während sie unlustig zu essen begann. Nach ein paar Augenblicken schien ihr ein neuer Gedanke zu kommen, und sie fragte:
    »Wo ist Luigi? Warum ist er nicht hergekommen?«
    »Ich weiß es nicht, Anna.«
    Ihre seltsam abwesende Art schien die Antwort einfach hinzunehmen. Rienzi zögerte einen Augenblick und fragte sie dann:
    »Sagen Sie mir, warum haben Sie Luigi geheiratet?«
    »Meine Tante hat gesagt, es wäre Zeit für mich, zu heiraten. Und ich wollte es selber auch. Luigi war ein netter Junge, lieb und freundlich. Es schien, als könnten wir miteinander glücklich sein.«
    »Aber Sie waren es nicht?«
    »Als wir verlobt waren, doch. Ich war stolz auf ihn, und er schien stolz auf mich zu sein. Wir sind spazierengegangen und haben geredet und uns an der Hand gehalten und uns geküßt. Wir haben Pläne gemacht, was wir tun würden, und wir haben uns Namen für die Kinder ausgedacht und uns überlegt, wie wir uns einrichten würden.«
    »Aber

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