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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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unangenehm berührt auf und wandten sich dann fragend dem Präsidenten zu. Der alte Herr saß einen Augenblick schweigend da und spielte mit seinem Bleistift. Dann erklärte er mit erhobener Stimme:
    »Angesichts der schwierigen Lage, in der sich die Verteidigung befindet, sind wir geneigt, dem Antrag zuzustimmen. Der Zeuge ist entlassen und wird später wieder aufgerufen.«
    »Danke, Herr Präsident.«
    Rienzi setzte sich, und der Ankläger erhob sich mit offenkundigem Triumph.
    »Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten und des hohen Gerichtes möchte die Staatsanwaltschaft erklären, daß sie glaubt, den Mord sowie den Vorsatz voll erwiesen zu haben. Um jedoch jedem etwaigen Antrag der Verteidigung zuvorzukommen, die Angeklagte für unzurechnungsfähig zu erklären, bitte ich, als meinen letzten Zeugen Professor Emilio Galuzzi aufrufen zu dürfen.«
    Professor Galuzzi wirkte imponierend. Er sprach langsam und pedantisch; weder seine Autorität noch seine Kompetenz unterlagen auch nur dem geringsten Zweifel. Mit Erlaubnis des Präsidenten führte der Staatsanwalt die Befragung selber durch.
    »Professor Galuzzi, was ist bitte Ihr Amt?«
    »Ich bin Ordinarius für Gerichtsmedizin und Psychiatrie an der Universität von Siena. Außerdem bin ich Direktor der Psychiatrischen Abteilung des Santa-Catarina-Krankenhauses in dieser Stadt und als beratender Gutachter für Geisteskrankheiten und Kriminalpsychologie beim Justizministerium tätig.«
    »Haben Sie die Angeklagte Anna Albertini untersucht?«
    »Jawohl. Auf Veranlassung des Kanzlers dieses Gerichtes.«
    »Würden Sie dem Gericht bitte das Ergebnis dieser Untersuchung mitteilen?«
    »Ich fand keinerlei Anzeichen einer physischen Erkrankung und auch keinerlei Symptome von Hysterie. Es waren gewisse Schocknachwirkungen zu beobachten, aber das ist nach einem Verbrechen dieser Art durchaus natürlich. Jedoch habe ich ein außerordentlich starkes psychisches Trauma feststellen müssen, das direkt auf die Umstände beim Tode ihrer Mutter zurückzuführen ist. Es zeigte sich durch die klassischen Symptome der Besessenheit und Gefühlsbehinderung sowie einen im Hinblick auf dieses Verbrechen ganz offenbaren Schwund des moralischen Empfindens.«
    »Würden Sie sagen, Professor, daß die Angeklagte im Sinne des Gesetzes geistig gesund ist?«
    »Ja.«
    »Aus diesem Grunde waren Sie auch der Ansicht, sie könne sich vor diesem Gericht verantworten?«
    »Ja.«
    »Wieder rechtlich gesehen, Herr Professor: In Ihren Augen ist sie eine für ihre Handlungen verantwortliche Person?«
    »Sie fragen dasselbe zweimal«, sagte Galuzzi milde. »Ein gesunder Geist bedeutet im rechtlichen Sinne dasselbe wie Verantwortlichkeit.«
    Der Staatsanwalt nahm die Belehrung mit einem dünnen Lächeln hin.
    »Ich habe noch eine Frage. War Anna Albertini Ihrer Ansicht nach, wiederum im Sinne des Gesetzes, zur Zeit des Verbrechens eine für ihre Handlungen verantwortliche Person?«
    »Das würde ich sagen, ja.«
    »Das ist alles. Danke.«
    Carlo Rienzi stand auf.
    »Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten würde ich dem Zeugen gern ein paar Fragen stellen.« Der Präsident sah auf die Uhr, die fünf Minuten vor Mittag zeigte. Er sagte mit spöttischem Humor:
    »Das Gericht begrüßt jedes Zeichen von Aktivität seitens der Verteidigung, aber wir nähern uns der Mittagspause. Wird die Befragung längere Zeit in Anspruch nehmen?«
    »Es kann eine Weile dauern, Herr Präsident.«
    »In diesem Fall scheint es mir besser zu sein, wir vertagen uns vorher. Die Verteidigung kann mit der Befragung bei Wiederaufnahme beginnen. Die Sitzung wird auf drei Uhr nachmittags vertagt.«
    Er raffte seine Papiere zusammen und ging, von seinen Kollegen gefolgt, hinaus. Der Gerichtsdiener führte Anna Albertini von der Anklagebank, und das Publikum begann sofort, sich lebhaft zu unterhalten. Landon und Ninette drängten sich nach vorn ; um mit Carlo zu sprechen, doch bevor sie ihn erreichten, war Valeria schon bei ihm, und sie hörten, wie sie ihn gereizt fragte: »Kommst du mit zum Essen, Carlo? Ich möchte hier nicht den halben Tag herumstehen.« Carlo blickte sie unbestimmt an.
    »Nein, warte nicht auf mich. Ich möchte mit Anna reden. Ich habe das Essen in ihre Zelle bestellt.«
    »Reizend!« sagte Valeria verächtlich. »Wie reizend! Wenn auch ein bißchen verstiegen. Dann hast du wohl nichts dagegen, wenn ich mit Basilio esse?«
    Rienzi zuckte verdrossen die Schultern und wandte sich ab.
    »Du mußt tun, was du nicht lassen

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