Tochter des Schweigens
Hauptsache.«
Sie lachten über seinen Zynismus, und er freute sich darüber. Und doch fühlte Landon so etwas wie Mitleid mit ihm: ein Mann von seiner Bedeutung, ein kühler Analytiker, ein mutiger Kämpfer, ein stoischer Humorist – und doch von der Leidenschaft, der er stets gefrönt und zu der er andere ermutigt hatte, der ruhigen Überlegenheit des Alters beraubt.
Landon war froh, als Ninette in ihrer ruhigen Art sagte:
»Carlo ißt heute bei uns zu Abend. Warum kommen Sie nicht auch, dottore! Es würde Ihnen beiden guttun.«
Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Sie haben ein gutes Herz, aber lassen Sie es nicht mit sich durchgehen. Carlo braucht Ihre Gesellschaft. Und ich bin ein böser alter Teufel, der aus reiner Perversität das Falsche sagen würde.« Er stand auf. »Lassen Sie uns vor der Nachmittagssitzung noch ein bißchen frische Luft schöpfen.«
Keine zwanzig Schritte vom Gerichtssaal, in der engen, weißgekalkten Zelle, servierte Carlo Rienzi seiner Mandantin das Mittagessen. Er hatte es in einem benachbarten Restaurant bestellt. Komplett mit Wein, Tafelsilber und frischem Leinenzeug. Jetzt deckte er den Tisch wie eine Hausfrau, während das Mädchen aus dem einzigen vergitterten Fenster auf einen blauen Fleck zwischen den Wolken starrte. Der Raum war dürftig wie eine Mönchszelle, ausgestattet mit einem Klappbett und einem Kruzifix an der Wand, ein paar Stühlen und einem rohen Holztisch. Aber für Carlo besaß er in diesem Augenblick einen Anflug von Gemütlichkeit und Intimität.
In den letzten Wochen hatte er Anna Albertini fast täglich besucht, blieb aber niemals mit ihr allein. Stets war ein Wärter in der Nähe gewesen, dessen Gegenwart sie zur Förmlichkeit zwang. Hier waren sie zum erstenmal wirklich allein. Die schwere Tür war verriegelt, das Klappfenster geschlossen, und der träge Wärter trank eine Flasche Wein zu seinem Mittagessen, das ihm Rienzi hatte bringen lassen.
Anna Albertini zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Freude oder Überraschung über die neue Situation. Sie hatte ihm gedankt, als das Essen in die Zelle gebracht wurde, und es ihm überlassen, den Tisch zu decken. Als er fertig war, rief er sie:
»Kommen Sie etwas essen, Anna.«
»Ich möchte nichts essen, danke.« Sie wandte sich nicht nach ihm um, sondern sprach mit ausdrucksloser Stimme, den Blick auf den Himmel gerichtet.
»Es ist ein gutes Essen«, sagte Rienzi mit forcierter Fröhlichkeit. »Ich habe es selber bestellt.«
Sie wandte sich nach ihm um und sagte mit einem Anflug von Wärme in der Stimme:
»Sie hätten sich nicht soviel Mühe machen sollen.«
Rienzi goß lächelnd zwei Gläser Wein ein und reichte ihr eins.
»Wenn Sie nicht hungrig sind – ich bin es. Wollen Sie nicht einen Bissen mit mir essen?«
»Wenn Sie es wünschen.«
Abwesend und ruhig kam sie zum Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Rienzi begann sofort zu essen und fragte sie zwischendurch: »Wie fühlen Sie sich, Anna?«
»Ganz gut, danke.«
»Es war schlimm, heute früh. Ich fürchte, heute nachmittag wird es noch schlimmer.«
»Ich hab' keine Angst.«
»Aber Sie sollten Angst haben«, sagte er rau. »Jetzt seien Sie nicht albern und essen Sie Ihr Mittagessen.«
Gehorsam wie ein Kind begann sie, auf ihrem Teller herumzustochern, während Rienzi seinen Wein trank, sie beobachtete und sich wie immer über ihre ihm fast unheimliche Art wunderte, Unschuld und Unbeteiligtheit auszustrahlen. Nach einer Weile fragte sie:
»Warum sollte ich Angst haben?«
Trotz all seiner Erfahrung mit ihr war Rienzi verblüfft.
»Verstehen Sie denn nicht, Anna? Selbst jetzt nicht? Sie haben das Gericht gesehen, Sie haben gehört, was der Staatsanwalt gesagt hat. Wenn es so geht, wie er will, kommen Sie für zwanzig Jahre ins Gefängnis. Ängstigt Sie das nicht?«
Ihre kleine wächserne Hand deutete auf die Zelle.
»Ist nicht das hier Gefängnis?«
»Ja.«
»Das ängstigt mich nicht.« Sie starrte ihn mit weitgeöffneten Augen an. »Die Leute sind freundlich und rücksichtsvoll. Ich bin hier glücklich. Auch in San Gimignano bin ich glücklich – glücklicher, als ich es je in meinem Leben gewesen bin.«
»Weil Sie einen Mann umgebracht haben?« Rienzis Ton war böse und gereizt.
»Nein, eigentlich nicht. Weil ich ruhig schlafe. Verstehen Sie das nicht? Ich habe keine Alpträume mehr. Ich wache morgens auf und fühle mich wie ein neuer Mensch. Wie ein neuer Mensch in einer neuen Welt. Ich brauche nichts zu hassen und nichts
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