Tochter des Schweigens
später?«
Anna Albertini sah ihn nachdenklich an, und zum erstenmal schien sie ihm verändert.
»Später war das mein Fehler. Ich konnte einfach nicht anders. Jedesmal, wenn er mich in die Arme nahm …« Sie brach ab und streckte ihm die Hände in einer flehenden Geste entgegen. »Bitte! Ich möchte nicht darüber sprechen! Es ist alles vorüber! Ich bin ein anderer Mensch. Ich weiß, ich werde ihm eine gute Frau sein.«
»Bedeutet er Ihnen immer noch so viel?«
»Er ist das einzige, was ich habe.«
»Was hat er gesagt, als er Sie im Gefängnis besucht hat?«
»Nichts. Er hat mich nur angesehen. Ich habe versucht, ihm alles zu erklären. Aber er hat mich gar nicht reden lassen. Und dann ist er gegangen. Ich mache ihm keinen Vorwurf. Ich bin überzeugt, er wird mich schließlich verstehen. Glauben Sie nicht auch?«
»Ich hoffe es«, sagte Rienzi, »aber ich würde mich nicht darauf verlassen.«
Zum erstenmal schien ihr klarzuwerden, worum es ging. Ihre Hand fuhr zum Mund, und ihr Gesicht verriet jähen Schreck.
»Liebt er mich nicht mehr?«
»Nein, Anna. Und ich lasse ihn heute noch einmal in den Zeugenstand rufen. Es wird Sie wahrscheinlich betrüben, was Sie zu hören bekommen.«
Sie stand auf und ging zum Fenster, wo sie zitternd stehenblieb, die Handflächen gegen die weiße Wand gedrückt. Rienzi fragte sie: »Haben Sie ihn wirklich geliebt, Anna?«
»Ich weiß nicht«, ihre Stimme war stumpf und tonlos. »Das ist es ja. Bis jetzt hab' ich überhaupt nichts gewußt. Nicht mal etwas über mich selber. Solange Belloni am Leben war, hatte alles einen Sinn. Es war eine lange grade Straße da, ich an einem Ende und Belloni am andern. Und solange ich weiterging, wußte ich, daß ich früher oder später auf ihn treffen mußte. Jetzt, wo er tot ist, gibt es gar nichts mehr – keine Straße, gar nichts.«
»Dann müssen Sie eine neue Straße finden, Anna.«
Aus ihrer Antwort sprach Verzweiflung:
»Aber eine Straße führt immer irgendwohin. Ich weiß nicht, wohin ich will. Ich weiß nicht einmal, ob es mich gibt. Es gibt meinen Namen, Anna Albertini – aber mich gibt es nicht. Können Sie mich sehen?«
»Das kann ich, Anna.« Er ging zu ihr und nahm ihre kalten Hände in die seinen. »Ich kann Sie sehen, und ich kann Sie fühlen. Sie sind sehr schön. Sie sind geschaffen, Kinder zu haben, zu lieben und geliebt zu werden.«
»Der einzige Mensch, der mich geliebt hat, war meine Mutter.«
»Sie ist tot, Anna.«
»Ich weiß.«
Er sagte eindringlich:
»Aber Sie leben, Anna. Sie werden weiterleben. Sie brauchen etwas, wofür Sie leben können.«
»Ich hatte Belloni. Jetzt ist auch er tot.«
»Das war Haß, Anna. Sie können einen Toten nicht mehr hassen.«
»Ich wollte Luigi lieben. Aber er liebt mich nicht. Was soll ich anfangen? Wohin soll ich gehen?«
Er sagte düster: »Wenn wir verlieren, werden Sie für zwanzig Jahre ins Gefängnis gehen.«
»Sie wissen, davor habe ich keine Angst. Irgendwie ist das ganz gut. Dort sagen sie mir, was ich tun soll, wie ich es tun soll und wohin ich gehen soll.«
»Aber das ist kein Leben!« rief er, jetzt doch wütend. »Das ist Tod! Das ist wie die Prinzessin im Zauberwald. Sie werden keine Alpträume mehr haben. Aber Sie werden auch nicht leben. Man wird Sie hierhin und dorthin schicken, wie eine Marionette, bis Ihre Schönheit dahinstirbt, bis die Liebe vergeht und bis es keine Hoffnung mehr gibt.«
»Bitte seien Sie mir nicht böse.«
Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Und warum nicht? Sie sind eine Frau! Keine Puppe. Sie können nicht einfach die Verantwortung für Ihr Leben auf andere abwälzen. Sie haben Luigi kaputtgemacht, Sie! Er wollte Liebe, und Sie konnten sie ihm nicht geben. Jetzt will ich etwas von Ihnen – Hilfe, Mitarbeit. Aber Sie geben mir nichts!« Er ließ sie los, und sie stand da und rieb ihre Schultern. Die ersten Tränen, die er je an ihr gesehen hatte, traten in ihre Augen, und sein Zorn war verflogen. Zärtlichkeit überwältigte ihn. Er legte seinen Arm um sie und zog ihren dunklen Kopf an seine Brust.
»Ich mache Ihnen ja keinen Vorwurf. Ich bin nicht Gott. Ich möchte, daß Sie sich selber Vorwürfe machen.«
Dann, zum erstenmal, begann sie zu schluchzen. Sie klammerte sich verzweifelt an ihn.
»Verlassen Sie mich nicht! Verlassen Sie mich nicht. Nur mit Ihnen fühle ich mich sicher!«
Er stieß sie heftig von sich.
»Sie können sich nicht sicher fühlen. Sie müssen sich nackt fühlen und allein
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