Tochter des Schweigens
und erschreckt. Sie müssen etwas so sehr wollen, daß es Ihr Herz bricht. Sie sind eine Frau, Anna, kein Kind!«
»Aber ich will ja eine Frau sein. Sehen Sie denn nicht, daß ich es sein will? Ich weiß nur nicht wie! Um Gottes willen, helfen Sie mir!«
Sie klammerte sich wieder an ihn, ihren dunklen Kopf an seiner Schulter, ihr Haar an seinen Lippen. Rienzi versuchte unbeholfen, sie zu trösten, während er die unabsehbaren Folgen ihrer Abhängigkeit von ihm bedachte. Dann schob er sie sanft von sich.
»Ich muß jetzt gehen, Anna. In ein paar Minuten beginnt die Verhandlung.«
»Gehen Sie nicht – lassen Sie mich nicht allein!«
»Ich muß, Anna«, sagte Rienzi fest. »Ich muß!«
Er wandte sich ab, ging zur Tür und rief den Wärter, der ihn herauslassen mußte. Als die Tür hinter ihm ins Schloß schlug, starrte Anna Albertini ausdruckslos auf das Klappfenster darin und warf sich dann, von plötzlichem Entsetzen übermannt, schluchzend auf das Bett.
6
Die Nachmittagssitzung begann ruhig, mit einer akademischen Einlage. Professor Galuzzi betrat den Zeugenstand, und Carlo Rienzi faßte zunächst die Aussage vom Vormittag zusammen. Dann fragte er:
»Professor Galuzzi, würden Sie wohl die Liebenswürdigkeit haben, dem Gericht die Begriffe Trauma und traumatische Psychose zu erklären.«
Galuzzi hüstelte, lächelte, richtete seinen Kneifer und sagte:
»Wörtlich bedeutet Trauma eine Wunde. Im medizinischen Sinn bezeichnet es einen morbiden Zustand des Körpers, hervorgerufen durch eine äußere Störung. Im psychiatrischen Sinne bedeutet es so ziemlich dasselbe – eine Wunde, die von einem seelischen oder geistigen Schock hervorgerufen wurde. Eine traumatische Psychose ist ein krankhafter Geisteszustand, der von einem Trauma herrührt. Um es noch einmal klarer zu sagen – ein Schnitt im Finger ist ein Trauma, wenn auch kein sehr ernsthaftes; auch Operationswunden sind Traumata. Und ähnliche Wunden kann die menschliche Psyche erhalten.«
»Und die ernsthafteren Traumata sind stets von Dauer?«
»Ja. Wenn auch Zeit und Behandlung ihre Wirkung mildern mögen.«
»Bitte korrigieren Sie mich, wenn nötig, Professor, aber bezeichnet das Wort Psychose nicht eine tiefverwurzelte, schwere und mehr oder weniger dauerhafte geistige Störung?«
»Ganz allgemein ist das richtig.«
»So daß ein Patient mit einer Psychose stets mehr oder weniger, sagen wir, behindert ist?«
»Ja.«
»Darf ich ein einfaches Beispiel anführen, Professor.« Rienzis Tonfall war sanft, beinahe ehrerbietig. »Ein Kind verliert seine geliebte Mutter. Würden Sie das einen emotionellen Schock nennen?«
»Ohne Zweifel.«
»Es würde eine Wunde hinterlassen?«
»Gewiß.«
»Die sich im späteren Leben durch gewisse geistige Ausfallserscheinungen bemerkbar machen kann?«
»Das wäre möglich – ja.«
Eine tiefe Stille schien plötzlich in dem Raum zu herrschen. Aller Augen folgten Rienzi, wie er zu seinem Tisch zurückging, einige Papiere an sich nahm und zu Galuzzi zurückkehrte. Er hatte sich merklich verändert: Seine Gestalt straffte sich, sein Ton war bestimmter, seine Fragen kamen rascher.
»Lassen Sie uns den Fall Anna Albertini ins Auge fassen. Sie hatte im Alter von acht Jahren beide Eltern verloren. Wie der Herr Ankläger vorgetragen hat, wurde ihre Mutter von einem Erschießungskommando exekutiert. Wie würden Sie die Wunde klassifizieren, die einem jungen Gemüt dadurch zugefügt wird?«
»Ich würde sagen: eine sehr schwere Wunde.«
»Noch eine Frage, Professor. Sie sagen, Sie hätten die Angeklagte untersucht. Welcher Art waren Ihre Untersuchungen?«
»Ich habe eine medizinische und eine neurologische Untersuchung sowie eine modifizierte Analyse durchgeführt.«
»Sie wissen dann, daß Anna Albertini nach vierjähriger Ehe noch immer Jungfrau ist?«
»Ja.«
»Ist es richtig, daß das auf ein abnormes Verhältnis zu ihrem Mann schließen läßt?«
»Ja.«
»Wie haben Sie diese Anomalie diagnostiziert?«
»Als einen Zustand sexuellen Unvermögens bezogen auf oder wahrscheinlich sogar veranlaßt durch ihr Jugenderlebnis.«
»Mit anderen Worten, durch das Trauma, von dem wir gesprochen haben?«
»Ja.«
»Würden Sie Anna Albertini eine psychopathische Person nennen?«
»Ja.«
»Mit anderen Worten, Professor, Sie sagen, daß Anna Albertini geschwächten Geistes ist?«
Der Staatsanwalt erhob sich protestierend.
»Herr Präsident, die Frage veranlaßt den Zeugen, einen Schluß zu ziehen, den zu
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