Tochter des Schweigens
wurde er unsicher und stammelte:
»Ich – ich habe die Frage beantwortet, wie sie mir gestellt wurde. Es wurde keine Untersuchung gefordert: aber – aber es hat Gerede gegeben, daß vielleicht eine Untersuchung kommen könnte. Aber es ist nichts draus geworden.«
Carlo sprang auf: »Herr Präsident, ich möchte bitten, daß der Schriftführer meine frühere Frage aus dem Protokoll verliest, in der ich ausdrücklich von ›Gerüchten, Zweifeln oder Fragen‹ gesprochen habe.«
»Auf eine Verlesung des Protokolls können wir verzichten«, sagte der Präsident nachdrücklich. »Die Frage ist uns noch deutlich in Erinnerung. Der Kanzler und der Staatsanwalt werden ein Auge darauf haben, daß gegen diesen Zeugen gegebenenfalls Anklage wegen Meineids und Rechtsbehinderung erhoben wird.«
Als Fiorello zu seinem Platz zurückging, schien er kleiner geworden zu sein. Rienzis Ansehen dagegen war spürbar gestiegen. Trotz seines vor Überanstrengung schlechten Aussehens strahlte er Autorität und Zuversicht aus. Nach einer kurzen Besprechung mit seinen Richterkollegen bat der Präsident das Publikum um Ruhe und sagte zu Rienzi:
»Meine Kollegen weisen mich nicht ohne Berechtigung darauf hin, daß die Verteidigung beträchtliches Gewicht auf den Charakter des Verstorbenen sowie auf ein Ereignis zu legen scheint, das sechzehn Jahre zurückliegt – nämlich die Exekution der Agnese Moschetti. Sie meinen, ebenso wie ich, die Verteidigung sollte dem Gericht die Erheblichkeit dieser Aussagen erklären.«
»Herr Präsident, diese Aussagen sind erheblich für die Beurteilung aller Einzelheiten dieses Falles: Natur der Tat, Motiv, Provokation, Vorsatz. Sie sind erheblich für die Beurteilung der moralischen und rechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten und für die Beantwortung der entscheidenden Frage: wie innerhalb der Grenzen des Gesetzes Gerechtigkeit geschehen kann.«
Ein leises anerkennendes Lächeln spielte um die schmalen Lippen des alten Juristen.
»Wenn die Beweisführung der Verteidigung ihrer Beredsamkeit gleichkommt, wird das Gericht das zu würdigen wissen. Ihr nächster Zeuge, bitte.«
»Ich bitte Fra Bonifazio, Priester der Gemeinde San Stefano, in den Zeugenstand.«
Es war eindrucksvoll und ergreifend, den ergrauten Priester gebeugt im Zeugenstand stehen zu sehen.
»Schwören Sie bei Gott, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, ohne etwas zu verschweigen oder hinzuzufügen?«
Der Priester zögerte einen Augenblick, dann wandte er sich an das Gericht.
»Darf ich etwas sagen, Herr Präsident?«
»Ja, Pater – worum geht es?«
»Ich kann nicht schwören, daß ich die ganze Wahrheit sagen werde – ich kann nur sagen, was außerhalb des Beichtgeheimnisses liegt und mir also als Privatmann zu Ohren gekommen ist.«
»Wir werden Ihren Eid so verstehen.«
»Dann schwöre ich.«
»Der Herr Verteidiger kann mit seiner Befragung beginnen.«
Rienzis Haltung dem alten Priester gegenüber war ehrerbietig, beinah unterwürfig. Wieder war Landon beeindruckt von seiner chamäleonhaften Fähigkeit, sich jeder Situation anzupassen. Er fragte mit ruhiger Stimme: »Wie lange leben Sie schon in San Stefano?«
»Zweiunddreißig Jahre.«
»Sie kennen jeden Einwohner des Ortes?«
»Jeden.«
»Sie haben auch die Mutter der Angeklagten gekannt, Agnese Moschetti?«
»Ja.«
»Und Sie kannten die Angeklagte als Kind?«
»Ja.«
»Nach dem Tod ihrer Mutter haben Sie sich ihrer angenommen und sie später zu ihren Verwandten nach Florenz geschickt?«
»Das stimmt.«
»Während des Krieges waren Sie Mitglied einer Partisanenabteilung, die gegen Deutsche und Faschisten kämpfte?«
»Das stimmt nicht ganz. Meine oberste Pflicht war stets die eines Priesters, der für das Seelenheil seiner Herde verantwortlich ist. Ich habe jedoch bei vielen Gelegenheiten mit örtlichen Partisanen zusammengearbeitet.«
»Insbesondere auch mit Gianbattista Belloni?«
»Ja.«
»Welcher Natur war diese Zusammenarbeit?«
»Ich habe Nachrichten überbracht – Flüchtlinge versteckt – Verwundete versorgt – manchmal auch Waffen, Munition und Lebensmittel befördert.«
»All das taten Sie bis zum Waffenstillstand?«
»Nein.«
»Können Sie das bitte dem Gericht erklären?«
»Gegen Ende des Krieges und unmittelbar danach zwang mich mein Gewissen, nicht mehr mit Belloni zusammenzuarbeiten und ihn sogar öffentlich zu tadeln.«
»Warum?«
»Ich glaube, viele seiner Handlungen waren damals nicht mehr von
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