Tochter des Schweigens
Schweigens hergegeben?«
»Ein Mann kann nur den Pfad einschlagen, den er vor seinen Füßen sieht. Es tut mir von ganzem Herzen leid.«
Niemand im Gericht konnte dem alten Mann sein Mitgefühl versagen. Aber Rienzi war noch nicht fertig mit ihm. Er ging zu seinem Tisch und wickelte umständlich ein kleines braunes Päckchen aus. Dann kehrte er zum Zeugenstand mit einem Gegenstand zurück, der wie ein Steinsplitter aussah. Er hielt ihn dem Pater vor die Augen.
»Erkennen Sie das?«
»Ja. Es ist ein Stück aus der Kirchhofsmauer von San Stefano.«
»Es ist etwas darauf geschrieben, ich bitte Sie, nicht die Worte vorzulesen, sondern zu sagen, wer sie geschrieben hat.«
»Anna Albertini, die Angeklagte.«
»Wissen Sie, wann sie geschrieben wurden?«
»Am Tag nach dem Tod ihrer Mutter.«
»Haben Sie gesehen, wie sie geschrieben wurden?«
»Ja. Ich kam dazu, als sie sie mit einem Stück Blech in die Mauer kratzte.«
»Danke, Pater. Das ist alles.«
Während der Pater gebeugt und mitgenommen aus dem Zeugenstand trat, wandte sich nun Rienzi an die Richter:
»Mit Genehmigung des Gerichts möchte ich später noch einmal auf dieses Beweisstück zurückkommen und es dem Gericht dann noch genauer beschreiben. Im Augenblick möchte ich die Aufmerksamkeit des Gerichtes auf den Zustand meiner Mandantin lenken. Wie Sie sehen, ist sie außerordentlich erschöpft und bedarf dringend der Ruhe und ärztlicher Fürsorge. Ich bitte das Gericht, nach Möglichkeit die Verhandlung bis morgen zu vertagen.«
Der Präsident sah ihn streng an. »Das Gericht hat der Verteidigung im Verfolg ihres Falles bereits außerordentliche Bewegungsfreiheit gelassen. Ich muß den Herrn Verteidiger warnen, sich allzusehr auf taktische Winkelzüge zu verlassen.«
»Das ist kein Winkelzug, Herr Präsident«, sagte Rienzi hitzig, »sondern ein Ersuchen, das ich aus Rücksicht auf meine Mandantin, die unter der denkbar schwersten Anklage steht, an Sie richten muß. Wir fügen uns selbstverständlich der Entscheidung des Gerichtes, aber wir möchten darauf hinweisen, daß unseres Erachtens ärztlicher Rat notwendig scheint.«
Der Präsident konferierte flüsternd mit seinen Kollegen und den Schöffen. Dann sagte er: »Würde jetzt Professor Galuzzi bitte zu uns vorkommen?«
Ein Raunen erhob sich, während Galuzzi mit dem Präsidenten und den anderen Mitgliedern des Gerichts verhandelte. Schließlich verkündete der Präsident:
»In Übereinstimmung mit dem Ersuchen der Verteidigung vertagt sich das Gericht bis morgen früh zehn Uhr.«
»Danke, Herr Präsident«, sagte Carlo Rienzi und ging zu seinem Tisch, wie ein Mann, der soeben die Ersparnisse eines ganzen Lebens auf eine Karte gesetzt hat.
»Ich hoffe«, murmelte Ascolini, »ich hoffe nur, er hat gute Karten für morgen. Wenn nicht, werden sie ihn kreuzigen.« Dann fügte er abrupt hinzu: »Carlo ißt heute bei Ihnen zu Abend. Ich möchte vorher noch mit Ihnen sprechen.«
Landon blickte ihn unentschlossen an. »Ich weiß nicht, ob ich Zeit dafür habe. Ninette ist nicht hier, und ich habe versprochen, nach der Sitzung auf Carlo zu warten.«
»Dann schicken Sie ihm eine Nachricht.« Ascolinis Ton war bestimmt. »Sagen Sie ihm, er soll in einer Stunde direkt in Ihre Wohnung kommen.«
»Aber warum, Doktor?« fragte Landon gereizt.
Seine Geduld mit diesen Leuten ging allmählich zu Ende. Ascolini war klug genug, das zu bemerken. Er breitete beschwichtigend die Hände aus.
»Ich weiß! Ich weiß! Wir verlangen zuviel und geben zuwenig. Wir ziehen Sie in unsere Intrigen, tun Ihnen weh, und Sie fühlen sich doch als unser Freund. Es tut mir leid. Ich verspreche Ihnen, das wird das letztemal sein.«
Er zog einen Notizblock mit einem kleinen silbernen Bleistift aus der Tasche.
»Bitte, tun Sie mir den Gefallen! Schreiben Sie einen Zettel für Carlo und schicken Sie ihn zu ihm.«
Landon kritzelte zögernd die Nachricht, und der alte Herr gab sie einem Gerichtsdiener mit dem Auftrag, sie Rienzi zustellen zu lassen. Dann zog er Landon aus dem Gerichtssaal, durch den Lärm der sich verlaufenden Zuhörer, hinaus in das blasse Nachmittagssonnenlicht der Stadt.
Durch winklige Gäßchen gelangten sie zu einer Piazza mit einem altersgrauen Springbrunnen und einem kleinen Café, in dem es Eistee und Kuchen gab. Der kleine Platz war noch heiß wie ein Gewächshaus, doch drinnen in dem Café war es angenehm dunkel und kühl. Sie wurden rasch bedient, und Ascolini begann ohne Umschweife, seine Gedanken
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