Tochter des Schweigens
kriegerischer Notwendigkeit, sondern von privatem Rachegelüst oder Gewinnsucht diktiert.«
»Können Sie dem Gericht Beispiele dafür nennen?«
»Belloni und seine Leute erschossen unseren Arzt, nur weil er einem Deutschen ärztliche Hilfe geleistet hatte. Er ordnete die Exekution eines Bauern und dessen Frau an, deren Land an seines grenzte. Später kaufte er dann dieses Land für einen Spottpreis. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand leitete er ein Standgerichtsverfahren und die Exekution von sieben Bürgern. Mir kamen dauernd Klagen von Frauen und Mädchen zu Ohren, die von ihm oder seinen Männern belästigt worden waren.«
Erregtes Gemurmel flackerte im Publikum auf, der Staatsanwalt erhob sich rasch.
»Herr Präsident! Ich muß mit allergrößtem Nachdruck gegen die Art und Weise dieser Vernehmung protestieren. Belloni ist tot und der Jurisdiktion dieses Gerichts nicht unterworfen. Wir befassen uns hier lediglich mit der Mordanklage gegen Anna Albertini – und die haben wir fraglos bewiesen. Belloni kann hier nicht für sich selber sprechen. Auch ist nicht er hier angeklagt, sondern Anna Albertini.«
Zum erstenmal entgegnete Rienzi selber mit Nachdruck:
»Herr Präsident, meine Herren Richter! Uns geht es hier um Gerechtigkeit! Unsere Rechtsprechung definiert und klassifiziert das Verbrechen des Mordes nicht einfach mit Begriffen wie Vorsatz und Provokation, sondern auch mit Begriffen wie Motiv und mildernde Umstände. Ich möchte mit Nachdruck betonen, daß Sie zu keinem gerechten Spruch gelangen können, wenn Sie nicht alle Umstände und alle Charaktere genau kennen – eingeschlossen den Charakter des Ermordeten.«
»Der Verteidiger soll fortfahren.«
»Danke, Herr Präsident.« Er wandte sich wieder an den Zeugen. »Und jetzt, Pater, würde das Gericht gern hören, was Sie über die Umstände beim Tod der Agnese Moschetti, der Mutter der Angeklagten, wissen.«
»Ich bedaure«, der alte Mann richtete sich auf und antwortete fest, »ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich war nicht Augenzeuge. Viel von dem, was ich darüber weiß, habe ich zuerst unter dem Beichtgeheimnis erfahren. Ich fühle mich daher außerstande, über diesen Punkt irgendeine Auskunft zu geben.«
»Darf man sagen, Pater, daß die Leute Ihnen diese Informationen in der Beichte anvertrauten, weil sie nicht wagten, sie öffentlich auszusprechen?«
»Auch diese Frage kann ich nicht beantworten.«
Der Präsident nickte zustimmend.
Rienzi nahm die Ablehnung respektvoll auf. Er wartete einen Augenblick und versuchte es dann auf einem anderen Weg.
»Lassen Sie mich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Fra Bonifazio. Haben Sie selber in irgendeiner Form öffentlich gegen die Hinrichtung der Agnese protestiert?«
»Jawohl. Ich habe sie mit den stärksten Ausdrücken von der Kanzel herab verdammt. Ich habe dabei auch andere Gewaltakte verurteilt – nicht nur solche, die die Partisanen begangen hatten, sondern auch Gewaltakte der damaligen Machthaber.«
»Und außerdem?«
»Ich habe bei dem früheren Polizeichef, Sergeant Lopinto, die Einleitung eines Strafverfahrens zu erwirken versucht.«
»Aber nach dem Waffenstillstand – als Sergeant Lopinto tot und Sergeant Fiorello auf seinem Posten und Belloni Bürgermeister von San Stefano –, haben Sie da noch etwas unternommen?«
»Ja. Ich habe Sergeant Fiorello aufgefordert, die Sache wieder aufzugreifen und eine öffentliche Untersuchung herbeizuführen. Er hat sich geweigert.«
»Hat er einen Grund für diese Weigerung angegeben?«
»Ja. Er sagte, im Kriege seien viele Dinge geschehen, die endlich vergessen werden müßten. Die Leute müßten anfangen, wieder ein normales Leben zu führen. Es habe keinen Sinn, alten Haß wieder anzufachen.«
»Und Sie waren damit einverstanden?« fragte Rienzi leise.
Zum erstenmal zögerte der alte Mann. Sein Gesicht umwölkte sich, seine Lippen zitterten, und die Last der Erinnerung schien ihn niederzudrücken.
»Ich – ich war meiner Sache nicht sicher. Manches sprach für diese Auffassung. Es ist die Tragödie des Krieges, daß gute Menschen durch ihn zu Bösem verführt werden, das angeblich im Dienst der guten Sache geschieht. Außerdem mußten wir unser Leben neu aufbauen, und wir konnten es nicht auf Haß gründen.«
»Sie haben also nichts weiter in dieser Sache unternommen?«
»Bis zum Tod von Gianbattista Belloni – nein.«
»Also, Pater«, sagte Rienzi hart, »haben auch Sie sich für diese Verschwörung des
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