Tochter des Schweigens
er nicht zu sprechen wünschte. Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander, dann wurde Anna Albertini hereingeführt, und gleich darauf kamen die Richter.
Das Mädchen bot einen erschütternden Anblick. Sie saß stocksteif auf der Anklagebank, die Hände umklammerten die Messingstange. Ihr Gesicht war schmal und lang, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, ihr Haar klebte feucht an Stirn und Schläfen. Doch als der Präsident sie fragte, ob sie in der Lage sei, der Verhandlung zu folgen, antwortete sie mit fester Stimme:
»Ja, gewiß.«
Rienzi rief den ersten Zeugen der Verteidigung auf: eine Bauersfrau Ende Dreißig, mit einem verblichenen Charme, der in merkwürdigem Gegensatz zu ihrer ländlichen Kleidung stand. Sie betrat den Zeugenstand ruhig und lächelte selbstbewußt, während ihr die Eidesformel vorgesprochen wurde. Der Präsident ging energisch und geschäftsmäßig an die Vernehmung:
»Sagen Sie dem Gericht Ihren Namen, bitte.«
»Magdalena Barone.«
»Wo wohnen Sie?«
»In Pietradura. Zehn Kilometer nördlich von San Stefano.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
»Haben Sie Kinder?«
»Ja. Einen Sohn.«
»In welchem Alter?«
»Sechzehn.«
»Wer ist sein Vater?«
»Gianbattista Belloni.«
Ein Aufschrei kam von Maria Bellonis Lippen:
»Das ist eine Lüge – eine ganz schmutzige Lüge ist das!«
Der Präsident schlug mit seinem Hammer auf den Tisch.
»Bei der nächsten Störung werde ich Sie aus dem Saal entfernen lassen!«
Der Staatsanwalt sprang auf:
»Herr Präsident – ich erhebe Einspruch. Ein Mann ist ermordet worden! Seine alten Sünden haben nichts mit diesem Fall zu tun!«
Der Präsident schüttelte den Kopf.
»Der Einspruch wird zurückgewiesen. Der Herr Ankläger hat sich bemüht, auf alle nur denkbaren positiven Umstände aus der Vergangenheit des Toten hinzuweisen. Die Verteidigung muß sinngemäß die gleiche Freiheit haben.« Er fuhr fort, die Zeugin zu befragen. »Hat der Vater Ihres Kindes jemals Unterhaltszahlungen geleistet?«
»Ja. Jeden Monat. Es war nicht viel, aber es hat geholfen.«
»Wie wurde Ihnen dieses Geld ausgezahlt?«
»Durch Sergeant Fiorello.«
»Hat er es persönlich überbracht?«
»Nein. Es kam mit der Post.«
»Woher wissen Sie, daß es von Sergeant Fiorello kam?«
»Nachdem mein Sohn geboren war, habe ich seinem Vater geschrieben, er solle mir helfen. Er hat nicht geantwortet, aber dann ist Sergeant Fiorello zu mir gekommen.«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt, ich würde monatlich Geld bekommen. Er würde es mir jeden Monat mit der Post schicken. Aber nur, solange ich den Mund hielte, wer der Vater ist.«
»Und warum sind Sie jetzt bereit, die Tatsache dem Gericht zu offenbaren?«
»Fra Bonifazio ist zu mir gekommen und hat gesagt, es wäre meine Pflicht, die Wahrheit zu sagen.«
»Danke, Sie können gehen.«
In der kurzen Pause war nur Maria Bellonis unterdrücktes Schluchzen zu hören. Der Staatsanwalt erhob sich und erklärte: »Herr Präsident – gestatten Sie mir zu bemerken, daß Unterhaltszahlung durch eine offizielle, Vertrauenswürdige Persönlichkeit das Andenken des Toten ehrt und nicht etwa entehrt.«
Der Präsident entgegnete liebenswürdig: »Das Gericht wird das ohne Zweifel zu gegebener Zeit berücksichtigen – Herr Rienzi?«
»Mit Genehmigung des Gerichts würde ich jetzt gern Sergeant Fiorello noch einmal in den Zeugenstand rufen lassen.«
»Bitte.«
Der stämmige Sergeant betrat den Zeugenstand. Er blinzelte ein bißchen, als Carlo um die Erlaubnis bat, die Vernehmung selbst durchführen zu dürfen, zeigte jedoch im übrigen keinerlei Anzeichen von Bewegung.
»Sergeant Fiorello, ich möchte Ihnen gern ein paar Einzelheiten aus Ihrer Dienstzeit in Erinnerung bringen. Sie kamen vor zwanzig Jahren unter den Faschisten zur Polizei und wurden nach Ihrer Ausbildung dem Polizeiposten in San Stefano zugeteilt. Dort blieben Sie den ganzen Krieg über. Nach dem Krieg wurden Sie zum Sergeanten befördert und zum Chef des Postens gemacht. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Nach dem Krieg wurden viele Ihrer Kameraden wegen faschistischer Sympathien, Unterdrückungsmaßnahmen oder Grausamkeit aus dem Polizeidienst entlassen.«
»Ja.«
»Und während des Krieges wurde eine Anzahl aus den gleichen Gründen von den Partisanen erschossen?«
»Ja.«
»Wieso wurden Sie nun statt dessen befördert?«
»Die offizielle Untersuchung ergab, daß ich aktiv in der Untergrundbewegung mitgearbeitet und heimlich mit
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