Tochter des Schweigens
Einflüsse. So kennen mich meine Kollegen – als den ehrgeizigen, zielstrebigen Burschen, dem sie gern ein Bein stellen würden, aber der nicht darüber stolpert, weil er zuviel weiß und zuwenig fühlt. Ich könnte vielleicht wieder so werden – aber nicht mehr damit zufrieden sein. Ich weiß jetzt, was ich brauche. Ich weiß, ich brauche dich. Ich möchte dir etwas sagen, Liebling. Ich habe das noch nie in meinem ganzen Leben zu einem anderen Menschen gesagt. In diesem Augenblick bin ich fast wie Carlo Rienzi: Du kannst jeden Preis für dich verlangen. Ich denke, ich würde ihn zahlen.«
Sie stand lange zusammengesunken und unentschlossen da. Dann schüttelte sie den Kopf und flüsterte:
»Es gibt keinen Preis, Peter. Liebe mich einfach. Um Gottes willen, liebe mich einfach.«
Dann lief sie zu ihm, klammerte sich an ihn ; sie küßten sich und waren glücklich, und es schien beinah, als sei mit allen Illusionen ihre Jugend zurückgekehrt.
Als Carlo kam, fand er sie glücklich und zufrieden vor. Sie führten ihn lebhaft ins Atelier, machten es ihm gemütlich und waren mit aller Herzlichkeit bestrebt, sich einen schönen und harmonischen Abend zu machen. Chianti, Barolo und toskanischer Weinbrand sind kräftige Mittel gegen Schwermut, und an diesem Abend halfen sie. Sie tranken und lachten unaufhörlich, genossen Ninettes Essen und verfielen dann in einen Zustand wohliger Zufriedenheit, während Carlo sich an den Flügel setzte und Scarlatti, Brahms und alte Volksmusik aus den Bergen spielte.
Es waren geruhsame Stunden der Entspannung, der Erinnerung und der Hoffnung, die sie von der Außenwelt absonderten. Die Musik linderte alte und neue Wunden, und danach saßen sie in ein ruhiges Gespräch vertieft im Halbdunkel. Carlo sagte leise:
»Ich bin euch so dankbar für diesen Abend – dankbarer, als ich sagen kann. Morgen ist für mich ein kritischer Tag. Und ihr habt mir geholfen, es mit ihm aufnehmen zu können.«
»Wie wird es ausgehen, Carlo?« fragte Ninette.
»Wer weiß? Wir müssen uns der blinden Göttin anvertrauen. Ich wage nicht, zuviel zu hoffen.«
»Bist du bis jetzt zufrieden?«
»Für mich selber, ja. Ich glaube, wir haben besser abgeschnitten, als irgend jemand für möglich gehalten hätte. Ich kann mich prüfen und weiß, daß ich erreicht habe, was ich wollte. Anfangs dachte ich, ich könne mich damit zufriedengeben. Jetzt empfinde ich es als viel zuwenig.« Er brach ab, und der Schein des Streichholzes, mit dem er seine Zigarette anzündete, beleuchtete sein spitzes, blasses Gesicht, aus dem ein neues Selbstbewußtsein zu sprechen schien. »… jetzt macht mir Anna Sorgen. Sie verläßt sich völlig auf mich und hat so wenig Furcht und so wenig Verständnis dafür, was mein Mißerfolg für sie bedeuten könnte. Das ist ein richtiger Alptraum für mich.«
»Für sie ist es vielleicht eine Gnade«, sagte Ninette.
»O nein!« entgegnete er rasch. »Du verstehst das nicht. Anfangs war es eine Gnade – aber jetzt nicht mehr. Wie soll ich es nur erklären? Als ich sie zum erstenmal sah, war sie wie ein Kind. Nein – wie eine Frau, die eine für sie völlig neue Welt betritt. Eine seltsame, aber doch viel schönere Welt, in der es nichts zu hassen, nichts zu fürchten und nichts zu begehren gibt. Selbst das Gefängnis kam ihr wie ein angenehmer Aufenthalt vor. Ich dachte zuerst, sie verstünde ihre Lage nicht. Aber sie verstand sie sehr gut und konnte nur so einer zwanzigjährigen Haft ohne Schrecken ins Auge sehen. In ihrer ganzen Verteidigung schien es ihr nur darauf anzukommen, mir keine Schande zu machen. Ich habe schon mit dir darüber gesprochen, Peter, und du hast es als eine Schock-Euphorie erklärt – als das Wohlbefinden von Menschen, die einen schweren Schlag auf Geist oder Körper überstanden haben. Dann, allmählich, wurde sie sich über ihre Lage immer klarer. Sie begann, von ihrem Mann zu sprechen, von dem Fehlschlag ihres gemeinsamen Lebens und von ihrer Hoffnung, ihm jetzt Kinder schenken zu können. Es war brutal von mir, ihn in den Zeugenstand zu rufen, aber es war notwendig. Und es hat eine seltsame Wirkung gezeitigt. Zum erstenmal war sie sich nicht nur ihrer Tragödie bewußt, sondern auch einer Hoffnung. Wenn die ihr jetzt genommen wird – Gott weiß, was mit ihr geschieht.«
Er verstummte, und sie saßen rauchend und schweigend in der wachsenden Dunkelheit. Nach einer Weile sagte Ninette:
»Wie siehst du sie, Peter? Was für ein Mensch ist sie?«
Landon
Weitere Kostenlose Bücher