Tochter des Schweigens
bereit, sie dafür umzubringen?«
»Ja.«
»Hat keiner von Ihnen dagegen protestiert?«
»Freilich! Freilich!« Er machte einen schwachen Versuch, sich zu rechtfertigen. »Ich habe es versucht und ein paar andere auch. Aber Belloni hat's wie immer gemacht – er hat seine Pistole gezogen und gesagt: ›Ihr kennt das Gesetz. Ihr tut, was ich sage, oder ich knalle euch über den Haufen. Sucht euch aus, was ihr wollt.‹«
»Und am folgenden Tag«, sagte Rienzi leise, »haben Sie die Mutter von Anna Albertini umgebracht?«
»Wir haben sie nicht umgebracht! Belloni war es! Wir – wir sind nur mitgegangen, genau wie er's verlangt hat.«
Ein langes, erschütterndes Schweigen folgte diesen Worten. Aller Augen richteten sich auf den schäbigen, gebeugten Bauern im Zeugenstand. Und dann wandten sich alle wie auf eine geheime Verabredung hin dem Mädchen zu, das wie versteinert dasaß und ohne Ausdruck vor sich hin starrte. Mit leiser Stimme stellte Rienzi seine nächste Frage: »Würden Sie uns bitte den Hergang der Tat erzählen?«
Der alte Bauer holte tief Atem und setzte stockend seine Bekenntnisse fort.
»Es war Samstag nacht. Wir – wir sind alle mit zum Moschetti-Haus. Da war Agnese Moschetti mit dem Mädchen.«
»Mit diesem Mädchen?« Rienzis ausgestreckte Hand wies auf Anna Albertini.
»Ja. Sie war aber damals nur ein Kind, acht oder neun, denke ich. Wir – wir haben sie festgehalten, und Belloni hat ihre Mutter ins Schlafzimmer mitgenommen. Die Kleine hat geschrien und um sich getreten wie eine Wilde. Bis wir die Schüsse gehört haben. Dann – dann hat sie aufgehört. Kein Wort hat sie mehr gesagt. Nur dagestanden hat sie, und hat vor sich hin gestarrt, als ob sie tot wäre.« Seine Stimme brach, und die letzten Worte kamen tränenerstickt aus ihm hervor. »O Gott – es tut mir leid –, aber ich konnte es nicht ändern, ich konnte nicht!« Er barg sein Gesicht in den Händen und schluchzte hemmungslos, während Anna Albertini unbeweglich dasaß, erneut gebannt von dem alten Grauen.
Rienzi ging langsam zu seinem Tisch, nahm den Steinsplitter, den er Fra Bonifazio gezeigt hatte, und hielt ihn dem alten Bauern hin, der fragend darauf starrte. »Haben Sie das schon einmal gesehen?«
Carrese nickte, unfähig zu sprechen.
»Können Sie lesen?«
»Ja.«
»Würden Sie bitte die Worte, die in diesen Stein gekritzelt sind, einmal vorlesen?«
Carrese wandte sich mit verzerrtem Gesicht ab.
»Bitte, bitte, verlangen Sie das nicht von mir!«
Rienzi zuckte die Schultern und wandte sich an den Präsidenten. »Mit Erlaubnis des Gerichts werde ich die Worte vorlesen. Es sind einfache Worte, meine Herren, tief eingekratzt mit einem Stück Blech. Sie sind in den letzten sechzehn Jahren verwittert, doch sie sind noch immer lesbar. Sie lauten: Belloni, eines Tages werde ich dich umbringen!« Er reichte den Stein dem Präsidenten, der einen kurzen Blick darauf warf und ihn an seine Kollegen weitergab.
Rienzi stand erschöpft vor dem Richtertisch und wartete, während der Stein von Hand zu Hand ging. Dann nahm er ihn und legte ihn auf den Tisch des Staatsanwalts.
»Ich möchte, daß auch die Staatsanwaltschaft diese Worte liest, die ein Kind von acht Jahren am Tag nach dem Tod seiner Mutter schrieb!« Seine Stimme wurde scharf: »Sie beweisen die Anklage! Den Vorsatz! Den Vorsatz eines Kindes von acht Jahren, das zusehen mußte, wie seine Mutter von einem Partisanenhelden vergewaltigt und umgebracht wurde. Ich bin fertig mit diesem Zeugen, Herr Präsident.«
Durch die Grabesstille im Gerichtssaal schlurfte der Bauer zurück zu seinem Platz. Der Präsident kritzelte ein paar Worte auf einen Notizblock und reichte sie seinem Beisitzer. Dann sagte er mit tonloser Stimme:
»Bitte rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf, Herr Rienzi.«
»Ich bitte Herrn Peter Landon in den Zeugenstand.«
Nach Carreses dramatischer Aussage empfand Landon seinen Auftritt als ausgesprochen spannungsabschwächend. Dennoch riefen seine Erscheinung und sein englischer Name überraschtes Gemurmel hervor. Er ging zum Zeugenstand, machte seine Angaben zur Person und wurde vereidigt. Rienzi erläuterte anschließend dem Gericht seine Qualifikation und seine Bedeutung und bat dann, ihn gleich Galuzzi als Sachverständigen anzuerkennen.
Als wolle er von der Erschütterung ablenken, die die vorangegangene Aussage hinterlassen hatte, bat Rienzi den Schriftführer, das Protokoll von Professor Galuzzis Aussage zu verlesen. Der Schriftführer
Weitere Kostenlose Bücher