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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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dachte kurz nach und sagte:
    »Ich denke, daß sie überhaupt noch kein fertiger Mensch ist. Sie ist vierundzwanzig und mit dem normalen Alltag so vertraut wie jeder von uns – aber sie ist noch ein Kind, mit der Unschuld, der Ahnungslosigkeit und der Abhängigkeit eines Kindes.«
    »Genau das ist es!« sagte Carlo eifrig. »Valeria und ihr Vater glauben, ich liebte sie. Vielleicht stimmt das, aber nicht, wie sie das auslegen. Ich habe zwar kein Kind, aber ich denke, ich habe für Anna die gleichen Gefühle, die ich auch für eine Tochter haben würde: Fürsorge, Zärtlichkeit und Verantwortungsgefühl.«
    »Wird sie jemals erwachsen werden?« fragte Ninette, und Landon antwortete:
    »Es ist möglich, aber es wird lange dauern. Carlo hat schon ein paar Anzeichen bemerkt. Und auch der Mord war letztlich ein Versuch, sich der Last ihrer Vergangenheit gewaltsam zu entledigen. Den nächsten Schritt erleben wir jetzt mit: ihre tastenden Versuche, die eigene Persönlichkeit zu erproben –«
    »Wie diesen Nachmittag«, fiel Carlo ein. »Zum erstenmal war sie böse mit mir, weil ich ihr gesagt hatte, sie müsse selber Angst empfinden lernen, anstatt mir das zu überlassen.« Einen Augenblick schwiegen sie, dann fragte Landon leise aus der Dunkelheit: »Was hat sie dazu gesagt, Carlo?«
    »Daß ich zu ungeduldig mit ihr wäre. Daß ich zu rasch zuviel verlange. Daß sie eine Frau werden wolle, aber Hilfe brauche.«
    »Armes Kind«, sagte Ninette leise, »armes, verlorenes Kind.«
    »Aber seht ihr es denn nicht«, Rienzis Stimme wurde immer drängender, »sie sucht sich selber. Sie sucht jetzt einen neuen Weg. Wenn wir verlieren und sie für zwanzig Jahre ins Gefängnis muß, wird sie in völlige Verzweiflung fallen. Sie wird eine jener armen Kreaturen werden, die ihr ganzes Leben lang in einer Ecke sitzen, nichts sehen, nichts hören, nichts sagen und nicht einmal aus dem Gedanken an den Tod Trost ziehen können. Aber wenn wir gewinnen und sie die Hoffnung hat, in absehbarer Zeit entlassen zu werden, dann hat es für sie Sinn, weiter zu suchen, und mit ein bißchen Liebe kann sie auch ihr Ziel erreichen. Sogar die Sorge, die sie bei mir spürt, hat viel vermocht. Ein bißchen mehr – und wer weiß …«
    Landon konnte nicht umhin zu fragen:
    »Fühlst du dich dazu imstande und hast du das Recht?«
    Rienzi antwortete bestimmt:
    »Das denke ich wohl. Ich habe soviel für nichts hingegeben – warum sollte ich nicht ein bißchen für diese Verlorene tun können?«
    »Es könnte der Tag kommen«, sagte Landon langsam, »an dem ein Kind eine Frau geworden ist und mehr verlangt, als du zu geben vermagst.«
    »Ich kann daran nicht denken«, sagte Carlo Rienzi. »Ich kann nur an morgen denken.«

7
    Am folgenden Morgen trafen Landon und Ninette bereits eine Dreiviertelstunde vor Eröffnung der Verhandlung im Gericht ein, aber der Vorraum und sogar der Platz vor dem Eingang waren schon voller Neugieriger. Es kostete sie zwanzig Minuten Streit mit einem Beamten, der am Ende seiner Nervenkraft war, bevor sie endlich in den Gerichtssaal gelassen wurden, in dem schon einige Privilegierte Platz genommen hatten.
    Ascolini und Valeria gehörten zu ihnen. Sie war einfacher gekleidet als gewöhnlich. Ihr Gesicht war blaß, ihr Blick verloren und ihre Haltung seltsam abwesend. Landon und Ascolini saßen zwischen den beiden Frauen. Auch der Advokat machte einen abgespannten und gedankenverlorenen Eindruck. Er beantwortete Landons Fragen zerstreut und beurteilte die Aussichten der bevorstehenden Verhandlung in einem kurzen und gereizten Ton.
    »Bis jetzt war alles eine Sache der Taktik. Carlo hat Boden gewonnen. Die Hauptlinien seiner Verteidigung sind klargeworden. Von jetzt an kommt es nur noch auf die Aussagen an, die er zu bieten hat, und auf den Gebrauch, den er in seinem Plädoyer von ihnen macht. Ich hätte mich gern mit ihm darüber unterhalten, aber auch er hat einen dicken Schädel. Ich fühle mich alt heute morgen, es wird langsam Zeit, daß ich mich zurückziehe.«
    Die Türen zu beiden Seiten des Gerichtssaales wurden geöffnet, und die Akteure des letzen Aktes betraten die Bühne. Der Kanzler und seine Schreiber setzten sich an ihren Tisch, der Staatsanwalt unterhielt sich leise mit seinen Assistenten. Carlo Rienzi kam, wieder begleitet von seinen beiden dürftigen Kollegen. Er setzte sich gleichfalls und begann, in seinen Akten zu blättern und sich Notizen zu machen.
    Erregtes Gerede flackerte auf, als Anna Albertini von

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