Tochter des Schweigens
nächsten Mal wartest du womöglich eine Sekunde zu lange. Es gibt gegen beinah alles ein Mittel – aber keines gegen den Tod. Du fragst dich wahrscheinlich, was mich dein Tun und Lassen eigentlich anginge. Ich will es dir sagen. Unsere gemeinsame Nacht – sie hatte etwas Gutes, weil ein bißchen Liebe im Spiel war. Nicht genug für ein ganzes Leben, vielleicht aber genug für diese kurze Zeit – und daher gehst du mich etwas an. Aber mehr als das. Ich bin Arzt. Zu mir kommen Menschen mit kranken Seelen und kranken Herzen. Aber die meisten kommen zu spät, wenn die Krankheit schon zu tief sitzt und sie nicht mehr losläßt. Du bist noch nicht krank. Noch nicht. Du bist verletzt, müde und einsam. Ich biete dir meine Hilfe, damit du den Weg herausfindest.«
Er sah, wie in ihr der Wunsch, nachzugeben, mit ihrem Trotz rang. Sie schloß die Augen und lehnte sich stumm in die Kissen zurück. Landon beugte sich vor:
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Mädchen. Du kannst dich mit Schlafmitteln vollpumpen und morgen früh mit den Gespenstern zusammen aufwachen. Oder aber du sprichst dir den Kummer von der Seele und schiebst ihn jemand anderem zu. Mir zum Beispiel – ich kenne das alles, sogar das eigentlich nicht Aussprechbare.« Er lachte leise. »Es kostet nichts. Und wenn du weinen willst, dann kann ich dir ein sauberes Taschentuch borgen.«
Sie öffnete die Augen und sah ihn voll schmerzlicher Verwunderung an: »Ist das dein Ernst?«
»Natürlich!«
»Aber was passiert nachher? Sammelst du die Trümmer auf und setzt mich neu zusammen? Füllst dudie Hohlräume meines Bewußtseins aus?«
»Nein.«
»Oder streichelst du mir beruhigend den Kopf und sagst, es ist alles verziehen, wenn ich von jetzt an nur ein gutes Kind bin?«
»Auch das nicht.«
»Lehrst du meinen Vater, mich lieben, und Carlo, mich begehren?«
»Nein.«
»Aber was bietest du mir dann, Peter? Um Himmels willen – was kannst du mir dann bieten?«
»Mut und Rückgrat! Für alles andere brauchst du Gott. Aber ohne Mut wirst du ihn niemals finden. Also – mehr kann ich nicht tun. Willst du reden – oder willst du das Schlafmittel?«
Sie brach zusammen und begann, ihm ihre Seele auszuschütten, mit Tränen zunächst und dann mit einer Sturzflut von Worten, die hemmungslos aus ihr hervorbrachen; unzusammenhängend, wild, aber auch von entlarvender Klarheit. Landon hörte regungslos zu und staunte, wie stets, über die Vielgestaltigkeit der menschlichen Natur. Geliebte und Mutter, Dame und kleines Mädchen – die Nacht hätte nicht ausgereicht, auch nur ein einziges dieser Gesichter zu lesen. Was er unternahm, war keine klinische Analyse, sondern der Versuch, Gnade zu gewähren: für ein paar Stunden Kummer zu verbannen und eine Hoffnung zu wecken, die, wie er ahnte, vielleicht nicht einmal das Morgengrauen erleben würde.
Schließlich verebbte die Flut, und Valeria lehnte sich erschöpft zurück, jetzt aber ruhig und bereit zu schlafen. Landon beugte sich über sie, gab ihr einen flüchtigen Kuß und sie antwortete mit einem schläfrigen Murmeln. Dann ging er, müde und abgespannt, in sein Zimmer.
Ninette schlief angezogen auf seinem Bett. Er zog Jacke, Schlips und Schuhe aus, legte sich neben sie und war bald eingeschlafen.
Als er erwachte, war sie nicht mehr da – und ein neuer Morgen war angebrochen in der Toskana.
Als Landon hinunterkam, schien ihm eine neue, freudigere Atmosphäre in der Villa zu herrschen. Ninette und Valeria pflückten im Garten Blumen, und Ascolini studierte zusammen mit Carlo am Frühstückstisch einen Stoß Zeitungen und Glückwunschtelegramme.
Sie begrüßten ihn lächelnd.
Rienzi strahlte vor Freude.
»Es ist auch dein Erfolg, Peter! Ohne deinen Rat hätte ich es nicht halb so gut machen können. Ich habe Glück mit meinen Beratern und, glaube mir, ich weiß das auch.« Dann fügte er mit jungenhafter Unbeholfenheit hinzu: »Es tut mir so leid – wegen gestern abend. Ich hatte den ganzen Tag über nichts gegessen und war furchtbar betrunken.«
Ascolini lachte herzlich.
»Eine Bagatelle, mein Junge. Vergiß es. So was ist jedem schon mal passiert. Außerdem müssen wir an die Zukunft denken. Als Sie kamen, Landon, haben wir grade darüber gesprochen, wie Carlo mein Sozius wird. Ich will zwar noch nicht gleich ganz einpacken, aber bald. Und dann kann er die Praxis übernehmen. Bis dahin kann ich ihm schon noch ein bißchen beibringen?«
Es bestand ganz offensichtlich so ein gutes Einvernehmen
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