Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
Vom Netzwerk:
über die Stränge. Ich habe nicht vor, auf der Via Véneto Mannequins zu jagen. Dafür bin ich nicht gebaut. Ich wünschte, ich wäre es. Ob du es glaubst oder nicht – ich habe mich mit meiner Lage beinahe abgefunden. Formalehen sind in diesem Land eine alte Einrichtung. Valeria kann tun, was sie will, solange sie es unauffällig tut. Und ich selber kann anfangen, so etwas wie ein Lebensziel anzustreben. Es wird mich wahrscheinlich nicht restlos befriedigen, aber doch vielleicht zu einem Teil.«
    »Meinst du Anna Albertini?«
    »Ja. In drei Jahren wird sie frei sein. Inzwischen muß sie auf den Neubeginn vorbereitet werden. Sie braucht dafür vor allem Hilfe.«
    »Und du glaubst, die kannst du ihr bieten?«
    »Ich denke doch.«
    »Um welchen Preis?«
    »Einen geringeren jedenfalls, als den, den ich für den gegenwärtigen Zustand bezahlt habe.«
    »Willst du wissen, was ich davon halte?« fragte Landon eisig.
    »Deswegen rede ich mit dir, Peter. Ich brauche deine Freundschaft jetzt nötiger denn je.«
    »Dann hör um Gottes willen in Freundschaft zu, was ich dir jetzt sagen werde!« Landon legte alle seine Überzeugungskraft in die folgenden Worte: »Ich glaube und ich denke, du wirst dem zustimmen, daß nicht jeder Fehltritt ein Zeichen von Geisteskrankheit, sondern daß der Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist. Dennoch gibt es selbstverständlich so etwas wie eine moralische oder geistige Unzulänglichkeit oder auch Unzurechnungsfähigkeit. Und es gibt ganz unzweifelhaft auch viel Schlechtigkeit in dieser Welt. Außerdem existiert da noch eine ganz besondere Krankheit, eine Art Flucht vor dem Schuldgefühl, eine Vogel-Strauß-Politik, die die Decke über den Kopf zu ziehen versucht, um den Furien zu entgehen.
    Kurz und gut – deshalb spaltet sich die moderne Psychiatrie in zwei Schulen. Einmal in die Deterministen, deren Lehre unfehlbar zu der destruktiven Absurdität führt, daß das Übel sich selbst vergibt. Zum anderen in die Gegenschule, die den Standpunkt vertritt, es sei weit vernünftiger, einem Menschen, nach gründlicher Aufdeckung der Störung seines Innenlebens, Hoffnung auf Vergebung zu machen, wobei er außerdem auf den Pfad der Tugend geführt werden muß.« Er lachte ein bißchen verlegen. »Du fragst dich, warum ich dir hier eine Vorlesung halte, Carlo? Weiß Gott, ich bin kein Säulenheiliger. Ich weiß genau, wann ich etwas falsch mache. Und du weißt es auch. Jetzt kommt die Anwendung: Indem du Valeria jede Vergebung verweigerst, ja sie von ihr verlangst, schaffst du die Voraussetzung für weiteres Unrecht. Du errichtest die Fiktion, dich nur durch etwas erlösen zu können, was dich sicherlich zu Fall bringen wird – die Anbetung der Anna Albertini.«
    »Das ist nicht wahr, Peter«, sagte Rienzi heftig.
    »Doch, glaub mir. Hör mich an, Carlo, und denke einen Augenblick über Anna nach. Du hast deinen Sieg nach einem Plan errungen, den wir beide zusammen erarbeitet haben – mit der Theorie, wie du weißt, daß sie zum Zeitpunkt der Tat unzurechnungsfähig war, ihrer moralischen und gesetzlichen Verantwortung beraubt durch den Schock, den sie beim Tod ihrer Mutter erlitten hat. Das kann durchaus zutreffen – andererseits wäre denkbar, daß sie durchaus verantwortlich ist für ihre Tat und sich ihrer Schuld bewußt. Es ist durchaus möglich, daß sie sich erst nach der Tat – wohlgemerkt nach der Tat – in einen Zustand versetzt hat, der einer Flucht aus der Wirklichkeit gleichkommt und in dem sie seither gleich dem Vogel Strauß verharrt. Denke einmal einen Augenblick darüber nach. Und wenn nur etwas dafür spricht, bedenke, wohin das führt. Sie klammert sich an dich, weil du der einzige bist, der sie weiterhin von aller Schuld freispricht, so wie du es juristisch vor Gericht getan hast. Das könnte auch der Grund sein, warum sie ihrem Mann nicht nachtrauert: weil er sie verstoßen und ihr nicht vergeben hat!«
    »Das ist eine ungeheuerliche Vorstellung!«
    »Wahrhaftig ungeheuerlich«, sagte Landon, »und die Konsequenzen sind es noch viel mehr. Du könntest nämlich derjenige sein, der sie vollkommen und endgültig jeder Hoffnung beraubt.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Dann will ich es dir erklären, Carlo.« Er legte beschwichtigend eine Hand auf Rienzis Schulter, aber der wich unwillkürlich zurück. »Glaube mir, ich bin vollkommen aufrichtig! Ich will doch keine Gespenster heraufbeschwören, nur um dich zu erschrecken. Wir Psychiater haben nur dann eine

Weitere Kostenlose Bücher