Tochter des Schweigens
Raten?«
»Bring ihn zu Bett, um Gottes Willen!« sagte Valeria und versuchte, an ihnen vorbei und die Treppe hinunterzuschlüpfen. Rienzi langte nach ihr, aber Landon hielt ihn zurück. Er gab kichernd nach.
»Siehst du wohl, mein Freund, sie verachtet mich! Du verachtest mich nicht, Peter, nein? Du weißt, ich bin ein großer Mann! Und die kleine Anna verachtet mich auch nicht. Ich hab' sie gerettet, das weißt du! Keiner hat geglaubt, daß ich's kann, aber ich hab' sie gerettet. Arme kleine Anna. Ihr gibt heute keiner eine Party.«
Er lehnte sich gegen das Geländer und begann zu weinen. Halb schob, halb trug ihn Landon in sein kleines Schlafzimmer, legte ihn aufs Bett und zog ihm Jacke, Schlips und Schuhe aus. Er jammerte und brabbelte noch vor sich hin, als Landon die Tür schloß und die Treppe hinunterging.
Ninette winkte ihm von der Bibliothekstür her, und er ging zu ihr, während Ascolini und Valeria die letzten Gäste verabschiedeten. Sie küßte ihn und sagte:
»Danke dir, chéri. Du hast das sehr gut gemacht. Ich glaube nicht, daß irgend jemand allzuviel bemerkt hat. Valeria wird uns nach Hause fahren. Das arme Mädchen, sie tut mir schrecklich leid.«
»Es ist eine schlimme Geschichte – aber damit müssen sie jetzt selber fertig werden.«
»Was ist los mit Carlo?«
»Er ist müde. Hat zuviel getrunken. Und er ist ziemlich durcheinander.«
Sie zuckte seufzend die Schultern.
»Was soll man da auch machen, Peter. Gibt es überhaupt irgendeine Hoffnung für diese Menschen?«
»Keine«, sagte Ascolini von der Tür her. Er lehnte im Rahmen, ein weißhaariger, fahl aussehender alter Mann in einem Smoking, der plötzlich zu groß für ihn wirkte. »Wir vergessen nie etwas – und wir vergeben nie etwas. Auf uns liegt ein Fluch. Fahrt nach Hause, Freunde – und vergeßt uns.«
Er ging mit langsamen, schleppenden Schritten durch den Raum und ließ sich in einen Sessel fallen. Landon goß ihm ein Glas Brandy ein, und er kippte es mit einem Ruck hinunter, dann saß er zusammengesunken und teilnahmslos da und starrte vor sich auf den Boden. Valeria trat ein, sie hatte einen Mantel über ihr Abendkleid geworfen und trug einen kleinen Koffer in der Hand. Sie war weiß vor Zorn:
»Wir fahren jetzt, Vater. Warte nicht auf mich. Wenn Carlo nach mir fragen sollte, sag ihm, ich hätte Lazzaro gefragt, ob er mich wiederhaben wollte. Er ist weiß Gott nichts Aufregendes – aber er ist wenigstens ein Mann!«
»Bitte, Kind ; tu das nicht!« Ascolini raffte sich auf und machte eine fast flehentliche Geste. »Laß unsere Freunde den Wagen nehmen. Und du bleib hier und warte noch einen Tag mit mir.«
»Mit dir, Vater?« Ihre Stimme war hoch, sie klang rau und bitter. »Gestern abend hast du mir gesagt, ich sollte jetzt auf eigenen Füßen stehen. Du müßtest dein eigenes Leben leben, hast du gesagt – und ich meines –, und die Konsequenzen tragen. Nun – genau das tue ich jetzt. Carlo will mich nicht haben. Du hast genug davon, durch mich die verlorenen Jahre noch einmal zu erleben. So bin ich also frei. Gute Nacht, Vater! Ich erwarte euch beide im Wagen.«
Ohne sich umzusehen, lief sie aus dem Raum. Landon schüttelte Ascolinis schlaffe Hand und murmelte ein paar Worte, doch Ascolini schien ihn nicht zu hören. Nur als Ninette sich über ihn beugte und ihn zum Abschied küßte, richtete er sich auf, fuhr über ihre Wange und sagte leise:
»Gott segne dich, Kind. Paß auf deinen Mann auf – und seid gut zueinander.«
»Werden Sie uns in Rom besuchen kommen, dottore?«
»In Rom? O ja – ja, selbstverständlich.«
Sie ließen ihn allein, zusammengebrochen und verloren, und traten hinaus in den Mondschein, wo Valeria am Steuer ihres Wagens auf sie wartete. Ihr Gesicht war tränennaß, aber sie sagte kein Wort, sondern startete sofort und steuerte den Wagen schnell durch die Kurve der Auffahrt, hinaus auf das mondbeschienene helle Band der Straße nach Siena. Die ersten Kilometer saß sie gebeugt und schweigend hinter dem Steuer und riß den Wagen mit kreischenden Reifen durch die Kurven. Dann begann sie zu sprechen, einen leisen, leidenschaftlichen Monolog, der keine Unterbrechung duldete.
»Lieber Carlo! Lieber süßer Carlo! Der edle Jüngling mit der großen Begabung und der großen Zukunft – und der Frau, die ihn nicht geliebt hat! Ihr habt mir nicht geglaubt, nicht wahr? Ihr habt mich für ein kaltes Biest gehalten, das zu jedem Mann ins Bett sprang – außer zu ihrem eigenen. Die
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