Tochter des Windes - Roman
trug, das mich dazu befähigte? Doch die furchtbare Lage, in der wir uns befanden, erlaubte mir nicht, diesen Gedanken zu vertiefen. Meine Mutter wachte auf und stammelte verstört, Yoshiaki sei gewiss tot und unser Haus läge in Trümmern. Matsuo und ich trösteten sie so gut wir konnten, und es erwies sich, dass unsere verzweifelten Trostworte der Wirklichkeit entsprachen: Denn Vater lebte, und unser Haus war, wie der benachbarte Schrein und der groÃe Felsengarten, wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Als die Nachbeben schwächer wurden und die Flammen sich beruhigten, kehrten wir schweigend und erfüllt von Trauer zurück in unser Heim. Und weil für Mutter und Matsuo keine unmittelbare Gefahr mehr bestand, lieà ich sie allein und machte mich durch das furchtbare Chaos auf den Weg zum Nothospital, in dem Vater  â am Rand des Zusammenbruchs  â Tag und Nacht Verletzte pflegte. Es fehlte an Verbandszeug, an Medikamenten, an allem. Schwerverletze mussten ohne Anästhesie operiert werden. Ich konnte einige von Vaters Aufgaben übernehmen und bat ihn, etwas zu ruhen. Er rauchte eine Zigarette, legte sich in seinem blutbefleckten Arztkittel auf eine Decke und schlief ein paar Stunden lang wie ein Stein. Später wurde bekannt, dass das Erdbeben allein in der Hauptstadt vierhunderttausend Tote gefordert hatte.
Die Zeit verging. Tag für Tag kehrte das Leben in die verbrannte Stadt zurück. Man räumte die Trümmer weg, organisierte sich. Bald fand Mutter auch wieder Lebensmittel, Fisch und Gemüse auf dem Markt. Vaters Praxis war zerstört worden, fortan arbeitete er im Krankenhaus. Matsuo
bewunderte ihn sehr. Er war ein guter Schüler und wollte in seine FuÃstapfen treten. Doch auch ich machte mir über die Zukunft Gedanken. Heiraten? Ich war spröde, wortkarg, ungeduldig, eben wie ein Mädchen bei uns in jener Zeit nicht sein sollte. Es war eigenartig, aber ich sann unentwegt über etwas sehr Wichtiges nach, das mir innerlich keine Ruhe lieÃ. Und eines Abends bat ich die Eltern um die Erlaubnis, Medizin studieren zu dürfen. Die Frage, wie meine Bitte aufgenommen werden würde, beunruhigte mich natürlich sehr. Es war nicht üblich, dass junge Mädchen sich mit einem derart ausgefallenen Wunsch an die Eltern wandten. Krankenschwester, warum nicht? Erst recht in dieser Zeit, da viele Menschen unter schlimmen Krankheiten litten. Und einer späteren Heirat würde dadurch nichts im Wege stehen. Aber Ãrztin? Vater gab mir zu bedenken, wie lang und aufwendig das Studium sein würde. Und Mutter befürchtete, dass ich meinen Entschluss mit dem Verlust der Aussicht auf eine künftige Familie zu bezahlen hätte. Ich aber hielt an meinem Vorsatz fest. Die Tatsache, dass ich Vater tagelang zur Seite gestanden und sogar für ihn eingesprungen war, sprach schlieÃlich zu meinen Gunsten. Meine Eltern gaben mir ihre Genehmigung, und ein paar Monate später begann ich mein Studium an der Medizinschule.
Mir bleibt noch von Onkel Jan zu berichten, der nach dem Erdbeben in der tschechischen Botschaft Obdach gefunden hatte. Sein Haus war zerstört wie fast alle Gebäude, die er in Tokio errichtet hatte; sie waren Opfer des Erdbebens und der Feuerbrunst geworden. Auch hatte er eine junge Frau, die ihm sehr nahestand, und manche seiner guten Freunde verloren. Als er nach der Katastrophe meinen Vater aufsuchte, war er in sehr schlechter Verfassung. Wochenlang hatte eine Rauchdecke, begünstigt durch die Sonneneinwirkung
des Spätsommers, über der Stadt geschwelt. Onkel Jans Krankheit hatte sich stark verschlimmert. Die Hustenanfälle schwächten ihn derart, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte und an einem Stock gehen musste. Doch er wollte bleiben und mithelfen, Tokio wieder aufzubauen. Vater aber sagte zu ihm: »Mein Freund, deine Lungen würden die Belastung nicht aushalten. Willst du am Leben bleiben, musst du diese Stadt verlassen. Es wird Monate dauern, bis die Luft wieder klar ist. Komm zurück, wenn es dir besser geht und wir das Schlimmste hinter uns haben!«
Jan Letzel war so entmutigt und verzweifelt, dass er Vaters Ratschläge befolgte. Mit dem Versprechen, seine Krankheit auszukurieren und bald wieder zurückzukommen, schiffte er sich ein. Wir nahmen im Hafen von Yokohama Abschied. Wieder in der Tschechoslowakei, verbrachte er mehrere Monate in einem Sanatorium. Doch sein
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