Tochter des Windes - Roman
Wunsch, Japan wiederzusehen, ging nicht in Erfüllung. Er starb am 26. Dezember 1925 in seiner Heimatstadt Nachod. Er war fünfundvierzig Jahre alt.
23. Kapitel
D as alles hörte sich so fremd und seltsam an, schien so unwahrscheinlich, und manches konnte ich kaum glauben, aber  â eigenartig  â ich wollte mehr wissen. Tante Azai, diese undurchsichtige alte Frau, hatte in den dramatischsten Zeiten der neueren japanischen Geschichte ihre Persönlichkeit geformt, hatte begonnen, die anerzogenen Verhaltensregeln mit kritisch abwägenden Augen zu betrachten, und sie hatte die Kraft und den Mut gehabt, verschiedentlich aus den strengen Konventionen einer äuÃerst traditionsverhafteten Gesellschaft auszubrechen. Und sie hatte die geisterhafte Frau mit den schwarzen Zähnen gesehen, die auch mir erschienen war. Sollte es wirklich, wie Mia vermutete, nur mein Aufenthalt in diesem Haus gewesen sein, der diese Verbindung hergestellt hatte, oder sollte es noch einen tieferen Zusammenhang geben, der sich mir bisher noch nicht erschlieÃen konnte? Mit diesen Ãberlegungen kam ich vorerst nicht weiter. Ich musste mehr erfahren.
Bevor wir uns wieder mit Tante Azais Eintragungen befassten, brühte ich frischen Tee auf. Dann las Mia weiter.
Unter den Studenten hatte ich viele Kameraden, aber wenig Vertraute. Ich suchte auch keine Bindung. Es gab nur wenig Mädchen, die den gleichen Weg wie ich einschlugen. Mit einigen konnte ich mich befreunden. Und die jungen Männer? Ich verstand mich gut mit ihnen, blieb jedoch auf
Distanz. Eine junge Frau legt viel Wert auf ihr Aussehen, ihre Frisur. Ich machte mich nur zurecht, damit ich nicht unangenehm auffiel. Ich war vielleicht übertrieben stolz, aber das lag eben in meiner Natur. Meine Eltern, die jede Hoffnung aufgegeben hatten, mich zu verheiraten, plagten mich nicht mehr mit dieser Frage. Ich war zufrieden. Und so vergingen die Jahre  â in Windeseile, wie mir schien. Vater starb, als ich im achten Semester war, und ich trauerte sehr um ihn. Er war es ja gewesen, der meine Fähigkeiten entdeckt und gefördert hatte. Unser Heim war sehr einsam nach seinem Tod. In dieser Zeit kamen Mutter und ich einander näher. Sie vertraute mir manche Einzelheiten an, die unsere Vorfahren und den Ursprung unseres Haus betrafen. Und so fand ich auch eines Tages den Mut, ihr von meiner Traumvision zu berichten. Die Reaktion meiner Mutter werde ich nie vergessen. Mir schien, ich hatte plötzlich eine ganz andere Frau vor mir. Ihre übliche Sanftheit war einem Ausdruck von Stolz gewichen. Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht, ihre Augen glänzten. Auch ihre Stimme hatte einen festeren Klang, als sie mir erzählte, wer diese Frau war. Sie nannte mir ihren Namen unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit. Ich werde ihn also nicht preisgeben. Denn die Ereignisse, in die sie verwickelt war, widersprachen der offiziellen Version der Geschichte und sollten nicht bekannt werden. Ich erfuhr aber  â und darüber kann ich berichten  â, dass diese Frau einst versprochen hatte, ihre Nachkommen zu schützen. Mutter sagte, ihr Erscheinen sei eine Prophezeiung. Es ist ihr starker Geist, der ihr die Macht verleiht, dies zu bewirken. Ihre Traumgestalt weist stets auf etwas sehr Bedeutsames hin oder warnt dich vor einer Gefahr. Sei also wachsam!
Ich fragte Mutter, ob auch Tomoko von dieser Traumvision heimgesucht worden war. Mutter schüttelte den Kopf. Nein,
Tomoko nicht. Ihre Gedanken galten zu sehr ihrem Mann Sanshiro und den häuslichen Pflichten. Und Mutter selbst? Sie antwortete ein wenig traurig: »Es ist eine Belastung. Ich bin nicht stark genug.«
Das stimmte. Mutter, von Natur aus eigentlich sehr gesund und tatkräftig, war kein selbstständig denkender Mensch. Sie war eine Frau, die ehrlich glaubte, dass sie recht handelte, wenn sie sich an Althergebrachtes hielt. Tief in ihrem Herzen hatte sie auch nie in mein Studium eingewilligt, aber jetzt, im Alter, sah sie mich als Oberhaupt der Familie. Tomoko war ja nicht mehr da, und Matsuo ging noch zur Schule. Mutter traf nie eine Entscheidung, ohne mich vorher gefragt zu haben. Das missfiel mir, aber ich wusste, dass sie nicht anders konnte.
»Und mein Vater?«, fragte ich.
Da lachte sie ein wenig.
»Dein ehrenwerter Vater spekulierte ungern über Phantome !«
Ich verstand das gut. Vater war mit Leib und Seele Arzt gewesen,
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