Tochter des Windes - Roman
Als
er durch die Tür kam, löste er die Kette seines Helmes mit dem Hirschgeweih und gab ihn in die Obhut seines Feldwebels. Zu beiden Seiten der Tür nahm die schwer bewaffnete Leibgarde Aufstellung, wobei sie niederkniete und ihrem Herrn  â wie es der Anstand in einem fürstlichen Haus verlangte  â den Rücken zukehrte. In diesem Augenblick erschien  â mehrere Stock werke höher  â eine ganz junge Frau, beugte sich über das Geländer, lief leichtfüÃig die Treppe hinab, dem Mann entgegen. Ihr grüngoldenes Gewand huschte an den Säulen vorbei, es war, als ob sich ein schillernder Vogel im Helldunkel zeigte und wieder verschwand. Vor dem letzten Treppenabsatz blieb die junge Frau stehen, verbeugte sich mit anmutigem Schalk. Ihr wunderbar schlichtes Haar, im Nacken von einer Spange in Libellenform gehalten, wippte auf ihren Schultern wie ein schönes Gefieder. Ihr Anblick zauberte ein Lächeln auf das strenge Antlitz des Mannes. Und als er ihren Gruà mit einer tiefen, scherzhaften Verbeugung erwiderte, erkannte ich, dass da etwas Tieferes hinter seinem Lächeln verborgen war als nur die Huldigung einer schönen jungen Frau. Ich hörte sogar, wie er ihren Namen aussprach. Seine Stimme war tief im Ton, männlich und schön. Die Stimme eines Sängers, dachte ich. Gerne hätte ich mir den Namen gemerkt, doch ganz in der Nähe waren irgendwelche Geräusche, die mein Gehör verwirrten, sodass ich den Namen nicht verstand. Doch dann konzentrierte ich mich, und es gelang mir, die fremden Geräusche zu ignorieren. Wer mochte diese junge Frau sein? Eine Gemahlin oder eine Konkubine hätten ihre Freude niemals so freimütig zur Schau gestellt. Eine verheiratete Frau jener Zeit durfte vor den Leuten keine Zuneigung zeigen, es wäre nicht vornehm gewesen. Seine Tochter vielleicht? Ich hätte nicht sagen können, warum, aber ich hatte das Gefühl, dass auch dies nicht zutraf. Zwischen
beiden zeigte sich eine besondere Vertrautheit, ein Grad von Ãbereinstimmung, der zwischen Vater und Tochter undenkbar gewesen wäre und bei dem der Altersunterschied nicht zählte. Diese liebevolle Gemeinschaft erstaunte und begeisterte mich gleichermaÃen. Nie hätte ich gewagt, einem Erwachsenen zu widersprechen, geschweige denn mit ihm zu scherzen! Ich fand es auch kaum noch sonderbar, dass ich unter dem Verlust jeglichen Zeitgefühls Zeuge dieser Szene war und alles so klar empfand. Und plötzlich zuckte es kurz und schmerzhaft in meinem Rückgrat, die Zeit schnellte zurück an ihren Platz. Ich war wieder im Stadthaus von Hiroshima, ein unbedeutendes junges Ding unter den vielen Ehrengästen, die nach den offiziellen Ansprachen jetzt eingeladen wurden, das Gebäude zu besichtigen. Und plötzlich, während ich stumm meinen Eltern folgte, begriff ich, was auÃer mir offenbar niemand hatte bemerken können: Onkel Jan hatte das Schloss von Azuchi niemals gesehen. Er hatte es erträumt und unter dem Eindruck dieser Träume ein Gebäude errichtet, das den Geist des »Himmelsschlosses« in sich barg. Das Stadthaus von Hiroshima, das unter der Bezeichnung Genbaku-Dom den Abwurf der Atombombe überstehen und Weltruhm erlangen sollte, war das ferne Leuchten eines Meisterwerks, das in der Erinnerung der Menschheit nicht zur Ruhe kommen wollte.
Tante Azais Aufzeichnungen enthielten eine Spur Hysterie und schilderten gleichzeitig eine Traumwelt, der mit Vernunft nicht beizukommen war. Sie halluzinierte in aller Harmlosigkeit. Komisch, sie hatte mir nicht diesen Eindruck gemacht. Doch ich wusste, dass wir uns zu leicht mit einer Routineerklärung zufriedengeben. Woran, an welchen Zeichen sollten wir erkennen, ob nicht unsere Sinne schon zu
befangen sind, um Wahrheit und Erfundenes korrekt voneinander zu trennen? Es war, fiel mir ein, als ob meine kryptogene Erscheinung gewollt hatte, dass ich Tante Azais Hefte entdeckte. Als ob sie den Vorgang provoziert und eingeleitet hatte. Ein verrückter Gedanke? Ich erzählte Mia, dass meine Mutter im Sog der New-Age-Welle sich mit allen möglichen  â und wackeligen  â Spekulationen befasst hatte. Spukerscheinungen. Hexerei. Psychokinese. Hypnose. Sie war dann bei der Homöopathie gelandet und dabei geblieben. Immerhin etwas Handfestes.
»Jetzt fehlt nur noch«, sagte ich, »dass sich die Bilder an der Wand bewegen.«
Mia
Weitere Kostenlose Bücher