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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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dargestellt. Die Frau bewegte sich
an einem seltsamen Ort, sozusagen zwischen der Sonne und mir, sodass ich sie nur im Gegenlicht sah. Außer den wehenden Haaren war nicht die geringste Farbe an ihr, und je näher sie kam  – aber kam sie überhaupt näher?  –, desto mehr schien sie in die Höhe zu wachsen. Nichts in der prallen Sonne schien feste Konturen zu haben, dadurch wirkte die sich langsam nähernde Gestalt merkwürdig abstrakt. Auf einmal hielt sie an, blieb reglos stehen. Ich hatte das Gefühl, dass sie auf einer Bühne stand. Das Bühnenbild war der weiße Himmel. Hinter ihr flackerte das Licht immer greller, ich spürte eine wachsende Bedrohung, die langsam Form annahm. Ich konnte die Gefahr spüren, die in der Luft hing; es war, als ob die Frau zwischen mir und dieser Gefahr stand. Plötzlich hob sie den Arm und mit ihm den wehenden Ärmel. Sie schwang ihren Speer und deutete auf etwas unbestimmt Dunkles. Ich versuchte vergeblich auszumachen, was dieses Dunkle war, denn der Gegenstand  – ebenso wie die Gestalt der Frau  – veränderte sich ständig. Mal erhob er sich riesenhaft hinter ihr, mal schien er auf der Bühne winzig klein, ein Requisit. Es mochte eine Kuppel sein, dachte ich, als ein Blitz vom Himmel fiel und die Kuppel zu bersten schien. Das Licht war ganz und gar unerträglich, sodass ich im Traum die Augen schloss. Und als ich sie wieder öffnete, entfernte sich das Licht und Wolken glitten herbei, eine Wolkenwelle nach der anderen. Sie formten einen Trichter, in dem die Frau zu kreisen begann. Es war eine Art Tanz, wie ihn die Schamaninnen in alten Tagen zur Sonnenwende aufführten. Zuerst schien es, als kostete jede Bewegung sie Mühe, doch dann wurde ihr Tanz fließender und schneller. Der Wolkentrichter, der sich nach unten verjüngte, kreiste mit ihr, und ich sah, dass er über der Kuppel schwebte, die unversehrt im Sonnenlicht funkelte. Ich dachte, diese Kuppel kenne ich doch! Da erwachte
ich und brauchte nicht lange nachzudenken: Was ich im Traum gesehen hatte, war das Stadthaus von Hiroshima, und mein Traumgeist  – deren Namen ich verschweige  – hatte mir eine Warnung gebracht.
    Die Gefahr hing über uns, groß und über alle Maßen schrecklich, dessen war ich mir sicher wie sonst nichts. Ich hatte Verwandte in Hiroshima. Yuki, die jüngere Schwester meiner Mutter, lebte dort mit ihrer Schwiegertochter und dem kleinen Enkelsohn. Yuki blickte auf eine düstere, unsichere Zukunft: Ihr Sohn kämpfte in Malaysia, und auch ihr Mann war als Reservist eingezogen worden. Nun, ich wollte lieber als verrückt gelten, als mir später mein Leben lang Vorwürfe zu machen, nichts unternommen zu haben. Hiroshima, Japans siebtgrößte Stadt, stand sonderbarerweise noch, wo doch alle anderen Städte längst in Trümmern lagen. In Tokio waren die Telefonleitungen zerstört, doch die Post funktionierte  – schlecht zwar, aber man konnte telegrafieren. Ich gab ein Telegramm an Yuki auf, nur zwei Sätze: Ich hätte Schlimmes erfahren, und es sei besser, die Stadt zu verlassen. Somit beruhigte ich mein Gewissen. Eine Antwort erwartete ich nicht. Und am sechsten August, in fünfhundertachtzig Metern Höhe, direkt über dem Shima-Krankenhaus, zerriss die Explosion mit der Sprengkraft von zwölftausend Tonnen TNT die Luft. Es war nur ein einzelnes Flugzeug, das die Bombe abwarf. Fliegeralarm hatte es nicht gegeben.
    Und dann  – am neunten August, die zweite Bombe. Nagasaki. Die Amerikaner hatten zwei verschiedene Waffen entwickelt und wollten beide ausprobieren. Lange Zeit wussten wir nicht, was wirklich geschehen war. Nachrichten drangen nur spärlich durch und berichteten Furchtbares. Japan hatte kapituliert, aber jegliche Berichterstattung über Nagasaki und Hiroshima blieb bis 1952 verboten.

    Doch nach und nach erfuhren auch wir Einzelheiten. Und es wurde bekannt, dass die Amerikaner Jan Letzels Kuppel als Zielscheibe gewählt hatten. Weil dies als einziges hochragendes Gebäude leicht zu erkennen war. Die Kuppel überstand den Druck, wie inzwischen jeder weiß. Und wurde zum Mahnmal des Friedens.
    Ich habe im Nachhinein einen seltsamen Zugang zu meiner Geschichte. Aus beruflicher Sicht gebe ich mich nicht mit Erklärungen aus der Retorte zufrieden. Gewiss erleben wir Situationen, in denen die Vernunft

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