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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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jaulten. Die Hitze machte alle, Menschen und Tiere, verrückt. Und die Frau mit ihrem unheimlichen Blick zeigte doch nur, wie überreizt mein Gehirn war. Meine Kopfschmerzen hatten sich nicht beruhigt, im Gegenteil. Beim Frühstück wurde mir schlecht. Ich musste mich übergeben. Mutter sagte, dass ich der Praxis lieber fernbleiben sollte. Ich kümmerte mich also um leichte
Hausarbeiten, mehr brachte ich nicht zustande. Das grausige Heulen der Hunde kreiste gespenstisch über der Stadt. Sogar Mutter war beunruhigt. Was hatten die Tiere nur? Was ging draußen vor?
    Es war der erste September. Und kurz vor Mittag erschütterte jenes Erdbeben die Stadt, das als »Großes Erdbeben von Kanto« in die Geschichte eingehen sollte. Die Stöße erreichten eine Stärke von 7,9 auf der Richterskala. Es war, als ob die Erde sich verflüssigte. Unser Haus hielt stand, aber es schien nicht auf festen Boden gebaut, sondern auf Wellen, die auf und nieder schwankten. Mein Bruder und ich wurden zu Boden geschleudert, hielten uns fest in einer Welt, die überall zerbarst und zerstört wurde. Um diese Tageszeit waren viele Leute mit der Zubereitung des Essens beschäftigt. Nicht überall waren Gasleitungen gelegt, in vielen Häusern wurde noch mit Holzkohle gekocht. Weil die Öfen brannten, griff das Feuer schnell um sich, und bald standen ganze Stadtteile in Flammen. Damals bestand Tokio noch vorwiegend aus Holzhäusern. Flammengarben sprangen von einem Haus zum anderen, danach von einem Viertel zum nächsten. Und so gingen ganze Straßenzüge im Flammenmeer unter. Auch wir sahen uns vom Feuer bedroht und suchten wie Hunderte anderer Menschen Rettung im Park des Inari-Schreins, wo der Teich und die großen Steingärten den Flammen weniger Zugriff boten. Die Konfusion war unbeschreiblich. Unaufhaltsam drängte sich die Menge in die Umgebung des Schreins. Die hohen Granitpfeiler, die den Eingang bildeten, standen noch  – ein Signal, dass hier noch Zuflucht war. Wir befanden uns wie auf einer Insel inmitten einer brennenden Stadt. Um uns herum schluchzten und schrien die verzweifelten Menschen, immer mehr drängten sich in den Park. Wir konnten uns nicht mehr von der Stelle bewegen. Gegen Abend kam
Wind auf, über uns wirbelten Funken, brennende Strohfetzen, Splitter. Der zehnjährige Matsuo schleppte einen Koffer mit sich, in den wir ein paar Habseligkeiten gestopft hatten. Mutter weinte in aller Stille vor sich hin. Keiner von uns wusste, ob Vater noch am Leben war. Ich drückte Mutter sanft auf den Koffer nieder, damit sie sich setzen und ausruhen konnte, und hielt sie mit beiden Armen umfasst. Da erst merkte ich zu meiner Verwunderung, dass mein Kopf klar war, wie reingewaschen. Ich musste, überlegte ich, so empfindsam wie die vielen entsetzten Tiere sein, die ja unfähig gewesen waren, das Schreckliche in Worte zu fassen, es aber im Voraus gespürt hatten. So vergingen viele Stunden: Die Nacht brach herein und zeigte am Horizont den rundlaufenden Feuersturm. Viele Tausend Menschen waren dabei, Schneisen zu graben, um die Flammen aufzuhalten, arbeiteten in der Gefahr der einstürzenden Gebäude, in dem Gestank von Gas und Benzin und in schwelendem Rauch. Dann und wann schloss ich für Sekunden die Augen, schlief im Stehen ein, doch immer wieder weckten mich die Nachbeben, und wenn ich die Augen wieder aufriss, war mir, als hätte ich viele Jahrhunderte geschlafen, so gespenstisch und furchtbar war das Brausen der Flammen, das Schreien und Schluchzen der Menschen. Und während ich so dastand und in die Nacht hinausblickte, hörte ich ein lautes Donnern durch alle anderen Geräusche hindurch, ein roter Flammenvorhang wehte empor. Am Hafen explodierten die großen Gasbehälter, die Feuersbrunst griff auf die Schiffe über, überzog den Himmel mit blutrotem Leuchten. Doch trotz des Getöses wachte meine Mutter nicht auf. Ich hielt sie an mich gedrückt und dachte an die Geisterfrau. Ich war rational, wie mein Vater, und suchte für das Phänomen eine vernünftige Erklärung: In der Atmosphäre mochte es Zusammenballungen von Energien geben, die
besonders feinfühlige Menschen spürten. Vielleicht hatte sich eine elektrische Energie in den vierten Zustand der Materie  – in Plasma  – verwandelt, und mir war im Tiefschlaf gelungen, sie zu visualisieren. Konnte es sein, dass ich ein Erbgut in mir

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